Gegen falsche Idylle im Nachkriegstheater

Von Reinhardt Stumm · 22.07.2005
Fritz Kortner war unbequem und dickköpfig, manche bezeichneten ihn als bösartig. Er kämpfte gegen das Falsche und das Verlogene im Theater der Nachkriegszeit. Seine schonungslosen Inszenierungen waren immer für einen Skandal gut.
Als Fritz Kortner 1947 nach Deutschland zurückkehrte, war er 55 Jahre alt, amerikanischer Staatsbürger und hatte zwölf Jahre Hollywood als Filmschauspieler hinter sich. Und das deutsche Theater, zu dessen Stars er bis 1933 gehört hatte, war ein Trümmerhaufen, in jeder Hinsicht. Der Zielverlust war ziemlich total, die Erinnerung an die ruhmreichen 20er Jahre keine taugliche Stütze - wo einst Form den Inhalt trug, nur noch Hülsen, Verlegenheit, Verwirrung, Ziellosigkeit.

Wenige Theaterleute haben damals mit der gleichen Zielstrebigkeit versucht, der Schauspielerei in Deutschland ein neues Fundament zu verschaffen. Kortner hatte die falschen Töne im Ohr und er hasste sie. Bernhard Minetti in seinen "Erinnerungen":

"Als Schauspieler war er ins Exil gegangen und mit den menschlichen und politischen Erfahrungen und Erlebnissen des Exils als Regisseur zurückgekommen, um hier - auf eine ganz neue Art - weiterzumachen."

Peter Stein und Jürgen Flimm waren Regieassistenten bei Kortner, wie viele andere. Erlebten den Vorbildcharakter seiner Arbeit und wie die neue Regiegeneration eingeschworen wurde auf Genauigkeit, verlässliches Gefühl, Zartheit, gegen Schwammigkeit, falsches Pathos, Verlogenheit. Stein und Flimm sind schöne Beispiele dafür, wie sich durch solides Handwerk Haltungen und Einsichten vermitteln, die ihrerseits wieder zur Basis der Arbeit werden. Peter Stein:

"Denn er hat immer gesagt, nach Hitler kann man ganz bestimmte Töne und Sounds nicht mehr benutzen, und deswegen ist die Tatsache, von dem Gebrüll und dem Getöne herunterzukommen, ohne die Musikalität, die Plastizität und auch die Künstlichkeit des Sprechens aufzugeben, seine grandiose Leistung."

In seinen 44 Inszenierungen von 1949 bis 1970 stützte Kortner sich – meist in München, oft in Berlin - mit Vorliebe auf das klassische Repertoire. Allein elf Mal Shakespeare, vier Schiller-, vier Strindberg-Inszenierungen. Aber kein Osborne, kein Pinter, kein John Arden, kein Arnold Wesker - die Angry Young Men waren nichts für Kortner. Warum nicht? Bernhard Minetti kannte Kortners Verstandesschärfe, er wusste auch von dem Stachel im Fleisch, diesem nicht überwundenen Verlust der großen Form, der Kortner anspornte:

"Bei Kortner war alles auf geistige Durchdringung des Stoffs angelegt; sein Intellekt, seine Erfahrung war von Skepsis und Prüfung geprägt. Oft hatte man den Eindruck von Bitterkeit. Ob er persönlich verbittert war, kann ich nicht sagen. Vielleicht ist die Fülle seiner von bösartiger Ironie geprägten Sottisen, die schnell Anekdoten wurden, ein Ausdruck davon."

Vorsichtige Kritiker bezeichneten ihn als Regisseur der positiven Skandale. Klaus Kinski, der in Kortners Berliner Don Carlos-Inszenierung 1950 die Titelrolle spielen sollte, war weniger zart besaitet. Er schmiss die Rolle:

"Nach ein paar Wochen Probenarbeit mit Kortner habe ich genug von seiner Diktatur und Ungerechtigkeit. Ich schreie, dass er mich am Arsch lecken soll."

Das tat Kortner nicht. Er besetzte um und provozierte, ohne Kinski, den ersten großen Theaterskandal nach dem zweiten Weltkrieg. Was die positiven Skandale betrifft, hatte er durchaus seine eigene Meinung:

"Ja also, ich möchte mich lieber an das Wort positiv als an das Wort Skandal halten. Ich inszeniere wirklich keine Skandale, weder positive noch negative. Sondern ich inszeniere und spiele auch den wirklichen Tatbestand des Stückes, das heisst, dass der Tatbestand auch in Klassikern viel krasser, viel wahrheitsnäher und erschreckender ist als die gleisnerische, schmeichlerische Theaterform, die also in jenen düsteren Jahren so heiter um sich gegriffen hat, zulässt. Es ist möglich, dass diese Art den wirklichen Tatbestand ans Rampenlicht zu fördern, schockierend wirkt nach einer Zeit der Vertuschung des Tatbestands. Nach einer Zeit der Vernebelung, der Glättung, mag das Aufreissen des oft ungeheuerlichen Tatbestands wie zum Beispiel im Hamlet erschreckend wirken – ich mache schonend darauf aufmerksam."

Aber manchmal träumte der alte Schauspieler Kortner doch noch von der Zeit, als er auf der Bühne stand:

"Ja ja ja, ich möchte auch ganz gern wieder mal spielen, sicherlich werd ich‘s auch mal, aber das ist schwer, auch die Regiefrage ist schwer, wer soll es inszenieren, wenn ich spiele? Ich bin, wie sie wissen, ein sehr eigenwilliger Regisseur und bin aber auch ein eigenwilliger Schauspieler – das ist ein Problem..."

Das Problem wurde nicht mehr gelöst. Kortner starb, mit einem Regieauftrag des Theaters Basel in der Tasche, am 22. Juli 1975 in München. Er war eben 79 Jahre alt geworden.