Ein Rabbi tourt durch Frankreich
Auswandern nach Israel? Nicht für alle jüdischen Franzosen ist das nach den Anschlägen von Paris eine Option. Ein Rabbi fährt lieber in die Vororte der französischen Hauptstadt und sucht den Dialog mit den meist muslimischen Bürgern. Vom Staat bekommt er keine Unterstützung, denn der ist streng laizistisch.
"Ich bete für dich, damit du Moslem wirst. Damit ich nicht gezwungen bin, dich zu töten!"
Michel Serfaty kauert auf der Rückbank. Der Rabbi von Ris-Orangis ist ein großgewachsener Mann – 1,93 Meter. Der alte Bus klappert über die Stadtautobahn von Paris. Ein langer Tag in den Banlieues liegt hinter dem 72-Jährigen.
"Und er wiederholte es: 'Ich muss dich töten, wenn du Jude bleibst'. Er war etwa 22, 23 Jahre. Um uns herum standen andere Muslime, die sagten zu dem Jungen, 'Du spinnst, woher hast du so was ?' Und er zeigte auf einen kleinen Koran in seiner Hand. 'Voilà, hier steht es geschrieben!' Und ich sagte zu Ich: "Was hörst du da auf deinem Kopfhörer?' Und er antwortete: 'Das ist eine Kassette von Al Kaida.'"
Geschichten wie diese hat Serfaty hundertfach erlebt. Junge Muslime, die mit Vorurteilen gegen Juden aufgewachsen sind und später manipuliert werden durch Koranauslegungen – alles in Frankreich.
Die Intifada erfasste Ende der 1990er-Jahre auch Frankreich
Schon Ende der 90er-Jahre setzt sich der Rabbi für den jüdisch-muslimischen Dialog ein. Doch wenige Jahre später wirft ihn die zweite Intifada in diesem Bemühen zurück. Der Aufstand der arabischen Jugend gegen Israel erfasst auch Frankreich.
"Von Nord bis Süd, von Ost bis West, in allen Städten Frankreichs gab es antisemitische Übergriffe."
Die muslimischen Organisationen, einen Dachverband gibt es damals noch nicht, brechen den Dialog ab:
"Einer nach dem anderen erklärte, wir können nicht mit Ihnen zusammenarbeiten, Monsieur . Und alle sagten nur: Israel, Israel …"
Serfaty selbst wird 2003 auf dem Weg zur Synagoge überfallen. Sein damals 15 Jahre alter Sohn ist Augenzeuge. Staatspräsident Chirac schreibt einen Brief, Innenminister Sarkozy kommt nach Ris-Orangis, das ganze Land gerät in Aufregung, nachdem der Rabbi niedergeschlagen wurde.
Die jüdischen Organisationen ermuntern ihn damals weiterzumachen. Aber Serfaty will keine fruchtlosen Diskussionsrunden.
"Mit Kongressen bekämpfen Sie den Antisemitismus nicht."
Der Rabbi will in die Vorstädte. Vom Konsistorium bis zum Großen Rabbiner von Paris sind alle skeptisch, ja ablehnend.
Serfaty lässt sich vom Widerstand aber nicht beeindrucken. Er ist zäh, in seiner Jugend hat er als Scout alle Regionen Marokkos durchwandert, hat auf europäischem Niveau Basketball gespielt und gibt auch in diesem Kampf um die jüdisch-muslimische Verständigung nicht auf:
"Entscheidet, was ihr wollt, aber ich bleibe ein freier Mann. Und wenn ich entscheide, eine Tour de France zu unternehmen, brauche ich eure Erlaubnis nicht."
Mit einem befreundeten Iman geht der Rabbi in die Vorstädte
Im Mai 2005 startet Serfaty mit einem Team von Freiwilligen und einem befreundeten Imam. Sie gehen in die Vorstädte, in die Gegenden mit hohem Einwanderungsdruck, in die sozial schwachen Stadtteile Frankreichs.
Seit zehn Jahren ist Serfaty jetzt unterwegs. Jeweils im Mai und im Juni tourt der Bus durchs ganze Land, im Frühjahr und im Herbst sind die Banlieues von Paris an der Reihe.
Aus dem doppelstöckigen Bus von einst ist ein kleinerer Dieseltransporter geworden. AJMF - "Verein für Jüdisch-Muslimische Freundschaft" – prangt in großen Lettern auf der Karosserie, Sinnsprüche und Bilder, die zu Diskussionen anregen sollen, schmücken das Fahrzeug.
Aus den Freiwilligen ist ein Team aus Angestellten geworden. Die jungen Muslime Abou und Mohammed sind seit einem Jahr dabei. Ihre Nachnamen möchten sie nicht nennen. Seit den Attentaten vom Januar ist die Lage noch angespannter, als ohnedies schon.
Drei bewaffnete Polizisten folgen dem Bus, Leibwächter für den Rabbi.
Hier in Ris-Orangis, im Südosten von Paris, hat Amedy Coulibaly einen Teil seiner Schulzeit verbracht, in den Wohnblöcken nebenan, in Grigny, ist er aufgewachsen. Am 9. Januar erschoss Coulibaly in einem Supermarkt für koschere Lebensmittel vier Juden.
Zu diesem Supermarkt, an der Porte de Vincennes von Paris, zieht es den Rabbi an diesem Morgen.
Michel Serfaty parkt den Kleinbus kurz hinter der Ausfahrt von der Stadtautobahn. Wartet geduldig an der Ampel der mehrspurigen Straße, geht hinüber, vorbei an dem Meer von Blumen, dem Davidstern, Beileidsbekundungen - schwerbewaffnete Soldaten stehen vor dem "Hyper Cacher". Der ist erst seit wenigen Tagen wieder geöffnet, renoviert, die Spuren des Attentats überdeckt, so gut es ging:
"Ich bin sehr bewegt und immer noch erschüttert angesichts des Attentats. Wir leiden immer noch, sehen immer noch ihre Bilder vor uns, sie sind in unseren Synagogen präsent, ebenso wie die Journalisten von Charlie Hebdo. So was verschwindet nicht so schnell aus der Erinnerung."
Der Rabbi kauft ein paar Lebensmittel, "als Zeichen der Solidarität", sagte er.
Draußen sperren Gitter die Fläche vor dem Supermarkt ab, Normalität herrscht hier nicht.
Abou, ein junger Moslem, macht eine Ausbildung in dem Verein
An einem der Gitter lehnt Abou. Der junge Moslem hat einen Ausbildungsvertrag in dem kleinen Verein für jüdisch-muslimische Freundschaft und ist heute, wie schon so oft, mit dem Rabbi unterwegs in die Banlieues:
"Es gibt Leute, die eben keine Ahnung haben, nur Vorurteile und daraus können dann antisemitische, terroristische Akte entstehen."
Analysiert der junge Mann mit afrikanischen Wurzeln die Lage in seinem Heimatland Frankreich.
"Und wenn man keine Kenntnisse, nur Vorurteile hat, baut man Mist."
Mit den jungen Muslimen in den Vororten diskutieren – das falle ihm nicht schwer, sagt der 24-Jährige. Der dann aber doch den ganzen Tag über eher am Rande des Geschehens bleibt, abwartend, beobachtend, fast passiv.
Der Kleinbus setzt sich in Bewegung, es geht nach Montreuil. Die bevölkerungsreichste Gemeinde am Stadtrand von Paris, Département Seine-Saint-Denis, ein altes Arbeiterviertel mit hohen Einwandererzahlen, der Maghreb und Schwarzafrika sind im Straßenbild allgegenwärtig:
Michel Serfaty, die Kippa unter dem schwarzen Hut verborgen, trägt über dem Jackett ein T-Shirt des Vereins für die jüdisch-muslimische Freundschaft. "Man muss einfach, simpel auftreten, wenn man die Leute erreichen will", sagt er.
Das Team ist jetzt komplett, zwei junge Frauen haben sich noch angeschlossen.
Nur mithilfe der staatlich subventionierten Arbeitsverträge für die Mitarbeiter kann der Verein überleben. Eine kleine Subvention von der Stadt und dem Département kommt hinzu, für Prospekte vor allem. Außerdem gibt es eine kleine, eher symbolische Geldspritze eines privaten, jüdischen Vereins.
Das Team verteilt Handzettel, der Rabbi erklärt die Idee, normalerweise zieht ein Imam mit ihm durch die Stadtteile, aber der hat sich an diesem Tag entschuldigen lassen.
Seit zehn Jahren setzen wir uns für die jüdisch-muslimische Freundschaft ein, erklärt Serfaty.
Aber der Passant ist skeptisch, der Rabbi wünscht ihm gute Gesundheit, versucht es beim Nächsten, schüttelt Hände, er ist körperlich bei der Sache, zugewandt, aufmerksam, einem Passanten bietet Serfaty ein Stück der koscheren Wurst an, die er im Supermarkt an der Porte de Vincennes gekauft hatte.
Zwei Männer lungern in einem Kneipeneingang.
"Haben Sie jüdische Freunde? Möchten Sie welche haben? Dann kommen Sie mit mir?"
Serfaty ist Gelehrter, ist Spezialist für semitische Sprachen, als Universitätsprofessor pädagogisch versiert.
Es wird herumgealbert, aber das Thema bleibt ernst.
"Die Juden haben Angst, sie haben die Banlieues verlassen, und was glauben Sie stellen sich die Leute in den Vororten jetzt vor?"
Fragt Serfaty.
"Der ist gut, schön und reich", bedient der Angesprochene umgehend die gängigen Vorurteile.
"In allen Stadtteilen kursieren kursieren unvorstellbar viele Vorurteile"
"Deshalb", sagt der Rabbi, "komme ich in die Banlieues, um zu zeigen: 'Seht her, ich bin Jude, entdeckt mich!'"
Den Weg zum Rathaus von Montreuil, in dem vor wenigen Wochen noch die Trauerfeier für einen der getöteten Karikaturisten von Charlie Hebdo stattfand, legt Michel Serfaty zu Fuß zurück.
"Für mich sind die herrschenden Vorurteilehier in Frankreich Anlass für allergrößte Besorgnis. In allen Stadtteilen, die wir aufgesucht haben, kursieren unvorstellbar viele Vorurteile, und wenn man die Mauern um diese sensiblen Viertel nicht einreißt, nicht auf die Menschen zugeht, bleiben diese Vorurteile die Quelle aller Gefahren. Das treibt die Jungen in den Dschihad. Weil sie im Kopf all diese monströsen Dinge über die Juden haben."
Vorurteile, die im Elternhaus eine Rolle spielten oder in den Herkunftsländern zum allgemeinen Denkmuster zählen. Entscheidend aber ist für den Rabbi aus Ris-Orangis, dass die staatlichen Institutionen in Frankreich nicht helfen, die Vorurteile abzubauen:
"Seit zehn Jahren verweigern uns alle Schulrektoren Frankreichs den Zutritt, im Namen des Laizismus. Ich sage ihnen, ich bin zuallererst Universitätsprofessor, schaut, ich setze nie meine Kippa auf, lege sie gerne ab, um zu zeigen, dass ich den Laizismus in den öffentlichen Einrichtungen achte, aber nichts zu machen."
"Du bist ein Rabbi, und er ist ein Imam", werde seinem Team vorgehalten.
Der Rabbi und der Imam dürfen in Frankreich keine Schulen besuchen
Serfaty durfte mit seinem Freund, dem Imam aus Ris-Orangis, die Schulen nicht aufsuchen. Die Trennung von Staat und Religion in Frankreich ist strenges Gesetz, seit 1905.
Ihm sei bewusst, dass die Trennung von Staat und Kirche für Frankreich überlebenswichtig sei, alles andere würde heißen, die Büchse der Pandora zu öffnen, räumt Serfaty ein und betont: "Ich habe tiefen Respekt vor dem Prinzip des Laizismus."
Aber dieses Prinzip hemmt andererseits die Vermittlungen von Kenntnissen übereinander. Und wo der eine vom anderen nichts weiß, gedeihen die Vorurteile.
Auf dem Platz vor dem Rathaus von Montreuil wartet der Kleinbus. Einer der bunten Aufkleber ist vor Kurzem beschädigt worden, eine Anspielung auf das Abbild Gottes und Mohammeds.
Aber überwiegend gehe es friedlich zu, schildert das Team vom Verein für die jüdisch-muslimische Freundschaft.
Passanten bleiben stehen, ein Mann aus dem Libanon schimpft:
"Ein Zionist ist einer, der Israels Politik unterstützt. Und das ist Kolonialpolitik."
Einverstanden! Pflicht der Rabbi bei, der selbst schon Hilfsgüter in den Gaza-Streifen gebracht hat. Dass aber die Aussöhnung zwischen Juden und Muslimen in den französischen Banlieues am Nahost- Konflikt scheitern soll, will Serfaty nicht hinnehmen.
"Sehen Sie,ich bin sehr sensibel für das, was HIER geschieht, und Sie lässt das gleichgültig. Sie kämpfen nicht dafür, dass Juden und Muslime hier miteinander zu Recht kommen, sondern reden von dem, was dort passiert."
"Wechseln Sie Ihre Repräsentanten aus, sorgen Sie dafür, dass der CRIF, der jüdische Dachverband, in Israel nicht systematisch Likud unterstützt", lässt der Mann nicht locker. Ein anderer steht abseits, filmt mit dem Handy den Streit. Der Jugendliche mit maghrebinischen Wurzeln schüttelt genervt den Kopf:
"Die Leute haben doch die Nase voll. Über die Angriffe auf jüdische Friedhöfe redet jeder, sofort wird das von allen Seiten verurteilt. Aber wenn Sie oder ich in der Metro angegriffen werden, interessiert das Keinen. Wo kommen wir da hin? Da gibt es Zensur gegen den Komiker Dieudonné, der bei den jungen Muslimen sehr beliebt ist, Meinungsfreiheit für alle, das ist doch ein Witz. Aus meiner Sicht gibt es zwei Wahrheiten. Da wird vorgeschrieben, was man essen soll, kein Halal-Fleisch, wissen Sie, was ich meine?"
Dem Rabbi will er die Hand jedenfalls nicht reichen.
Die kleine Gruppe des Vereins für jüdisch-muslimische Freundschaft zieht weiter durch das Viertel. Der Bus bahnt sich den Weg durch den Vorort.
An einem Wohnblock hofft das Team auf Einlass ins Gemeindehaus, "wir gehen dahin, wo die Jugend ist" sagt Serfaty.
Aber heute ist hier nichts los, die Kinder sind noch in der Schule.
Im nächsten Gemeindezentrum wird der Rabbi abgewiesen, unter Hinweis auf die Regeln des Laizismus – zwar will er über Freundschaft und nicht über Religionen reden, aber der Gruppenleiter bleibt streng.
Michel Serfaty wirkt nachdenklich. Die Lage in Frankreich wird immer schwieriger, immer mehr jüdische Familien verlassen das Land.
"Das betrifft uns, das sind befreundete Familien, Verwandte."
Im Januar, nach den Attentaten von Paris , hatte die französische Regierung den Juden zugerufen, "Frankreich ist Eure Heimat". Aber die Zahl der französischen Auswanderer nach Israel steigt und steigt.
Vor allem die Juden, die ihren Glauben offen lebten, hätten Angst. Auf etwa 80.000 der insgesamt 500.000 Juden in Frankreich schätzt Serfaty diese Gruppe. Hinzu komme der demographische Faktor.
"Die Synagogen schließen eine nach der anderen ihre Tore."
Vor 30 Jahren habe er noch 400 Namen im Adressbuch seiner Gemeinde gehabt, heute seien keine 150 mehr. In der Talmudschule seines Départements säßen gerade noch zehn Kinder.
Ein letzter Gang durch die Straßen, bevor es nach einem langen Tag zurück in den Südosten von Paris gehen soll. Der Zufall treibt dem Rabbi auf den letzten Metern einen alten Freund in den Weg.
Er sei mal nicht in seinem eigenen Stadtteil unterwegs, brauche etwas Abstand nach den schwierigen Wochen, sagt Moussa Niambéleé. Er ist Imam im 18. Arrondissement. Es gehe ihm nicht so gut in diesen Zeiten, gesteht er seinem Freund, dem Rabbi.
Und doch können beide hier auf dem Bürgersteig von Montreuil miteinander lachen.
"Wir haben viel zusammen gemacht, und werden weitermachen", sagt Niambélé . Er stammt aus dem Senegal, ist in Mali aufgewachsen und seit mehr als 50 Jahren in Frankreich.
Der Imam sucht Geld für den Bau einer Moschee. Vor vier Jahren hatten die gläubigen Muslime in seinem Viertel aus Platzmangel die Gebetsteppiche auf der Straße ausgerollt und damit eine hitzige, politische Debatte unter Beteiligung der französischen Rechtsextremen, losgetreten.
Laizismus-Gebot: Der französische Staat finanziert keine Moscheen
Inzwischen ist eine neue Moschee gebaut, für eine zweite sucht Niambélé noch Finanzquellen.
Das Laizismus-Gebot schließt den französischen Staat als Geldgeber aus, wie Niambélé suchen viele Imame Frankreichs das Geld für ihre Gebetshäuser anderswo – von Libyen bis Katar und Saudi-Arabien. Die ausländische Finanzierung der Moscheen Frankreichs hatte nach den Januar Attentaten zu einer Debatte in Frankreich geführt.
2,7 Millionen Euro fehlen uns noch, erzählt der Imam dem Rabbi auf dem Bürgersteig von Montreuil. Und auch, dass er nach den Attentaten mit anderen einen Verein gegründet hat, dass sich die gemäßigten Muslime zusammengeschlossen hätten:
"Salam" heißt die Vereinigung, auch ein muslimischer Frauenverband wurde an den Tisch geholt. Der Imam will die Schwarzafrikaner in der zersplitterten Landschaft der französischen Muslime besser organisieren.
Nach den Anschlägen vom Januar sei manches schwieriger, aber anderes auch einfacher geworden.
"Nach den Attentaten haben viele Leute verstanden, dass man die Dinge nicht vermengen darf, dass der Islam nicht das ist, was Viele daraus machen wollen."
Aussöhnung zwischen Juden und Muslimen. Für Niambélé ist das selbstverständlich.
"Wir machen weiter!", rufen sich Rabbi und Imam zu, und jeder geht seiner Wege der eine will noch Handzettel für den Freundschaftsverein verteilen, der andere ist auf dem Weg zum Abendgebet.