Britanniens vorbeugender Kampf gegen den Terror
In West-London helfen eine Somalierin und ein jamaikanischer Muslim und ehemaliger Rapper dabei, bei den jungen Leute im Viertel die religiöse Radikalisierung zu verhindern. Denn von hier wurden schon einige weggelockt - unter anderem nach Syrien, um dort für den IS zu kämpfen.
Shepards Bush in West-London ist gelebtes Multi-Kulti. Das Viertel war schon immer Anlaufstelle für Menschen aus dem British Empire. Da steht ein somalisches Restaurant neben einem jamaikanischen, oder neben einem indischen und chinesischen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befinden sich in friedlicher Koexistenz eine polnische Kneipe, ein syrischer Süsswarenladen und eine Apotheke, die Babylon heißt. In den 60er- und 70er-Jahren zog es die jamaikanische Community aus den West-Indies hierher, heute sieht man viele dunkelhäutige Frauen auf den Straßen von Shepards Bush, somalische Diaspora.
In einer Seitenstraße, neben einer heruntergekommenen Baptistenkirche mit abgeblätterten karibischen Farben und hinter einem aufgebrochenem Zaun, befindet sich der Eingang zu einem Kellerloch: der Sitz der "Mother and Child Welfare"-Organisation. Im fensterlosen Vorraum unterrichtet ein jamaikanischer Lehrer vier junge somalische Frauen und einen älteren polnischen Herren in englischem Basiswissen. Die Kosten für den Kurs trägt die Organisation.
Plötzlich wurden Kinder vermisst
Durchquert man den Unterrichtsraum, so gelangt man zu einem winzigen, noch tiefer gelegenen Zimmer. Dort drängen sich fünf Personen, auf alten Bürostühlen sitzend. Ein Meeting wird gerade abgehalten. Es geht um die Frage, wie und wo sich weitere Fördergelder für die Organisation beantragen lassen. Auch Hayat ist mit dabei, eine knapp vierzigjährige Somalierin mit einem runden lustigen Gesicht und einem knallorangenen Kopftuch. Sie kam gemeinsam mit ihren acht Kindern nach einer Odyssee vor fünf Jahren in Shepards Bush an und traf dort auf gruselige Zustände: fast täglich wurden damals in der somalischen Community 13 bis 17-jährige Kinder als vermisst gemeldet. Die Polizei tat wenig.
Wochen später tauchten Videos und Whatsapp Nachrichten von den Kindern aus Syrien oder Somalia auf. Sie waren von islamistischen Terrororganisationen wie dem sogenannten "Islamischen Staat" oder "Shebab" weggelockt und rekrutiert worden.
Kaum einer außerhalb der Community interessierte sich dafür, Somalia existiert nur als Fleck auf der Landkarte, und die britische Immigrationsbehörde verbot den Kindern einfach die Rückreise nach England. Das Problem schien so gelöst.
Hayat: "Früher war es so einfach. Die Kinder - sie verstanden nicht, was man mit ihnen machte. Hey du, schau Dir Dein Leben an, du hast doch keine Arbeit, keine Ausbildung. Komm mit uns, hilf deiner Kommune, alles im Namen der Religion. Hey, es ist einfach, komm nach Syrien oder Somalia."
Die Geschichte erinnert an den Rattenfänger von Hameln. Im aktuellen Londoner Fall lockten ältere muslimische Herren die Kinder an mit Versprechungen sowie mit Tickets für eine Reise über die Türkei nach Syrien oder Somalia. Hayat sah nur einen Ausweg, ihre Kinder und die der anderen Somalier zu schützen: Sie gründete ihre "Mother and Child Welfare"- Organisation und begann mit der Aufklärungsarbeit.
Hayat: "Aber jetzt verstehen die Kinder, wenn ein Mann kommt und ihnen sagt, sie sollen in ein anderes Land gehen. Sie wissen. Sie sind aufgewacht. Warum kommst du ausgerechnet zu mir? Nur weil ich aus Somalia bin? Warum wollen sie mir ein Ticket bezahlen? Was ist mit meiner Mutter? Warum? Sagen sie, warum? Sie sind falsch, weg mit ihnen! Sonst rufe ich die Polizei!"
Jugendliche werden im Knast rekrutiert
Hier leistet eine einfache, aber ambitionierte Frau sehr effektive Grassroots-Arbeit: in Veranstaltungen alarmiert sie Kinder und Mütter, informiert sie darüber, auf was sie achten sollen, vor wem sie sich in Acht nehmen müssen oder darüber, dass britische Gefängnisse zu den Hauptrekrutierungsorten für islamistische Terroristen zählen. Sie antwortet auf Fragen wie: wie kann die Familie unterstützend helfen? Heute kommen nur noch vereinzelte Vermissten-Alarmanrufe auf Hayats Handy an. Zwei im letzten Monat. Das ist wenig.
Ismael: "Oft werden solche Frauenorganisationen bei den Fördergeldern übersehen. Es sind von Männern gegründete Gruppen, denen das Geld zugesteckt wird, denn sie sind die Anführer der Community, sie sind laut gegenüber der Verwaltung. Aber in Wirklichkeit stecken sie das Geld nur ein und schicken es nach Hause, während die Frauen die echte Arbeit leisten. Wie kann man solche Organisationen also unterstützen? Das tut mir so weh, wenn ich das sehe. Organisationen, wie diese Mutter und Kind, die bekommen fast gar nichts aus den Fördertöpfen. Dabei tun sie die ganze Arbeit."
Ismael Lea South hat, was man street-credibility nennt, er ist einer, dem man glaubt in Shepards Bush. Er sitzt heute mit den Frauen zusammen und berät sie zu den möglichen Fördertöpfen. Der jamaikanische Muslim und ehemalige Rapper hat die Organisation "Salam Project" gegründet: Ein Grund für den Zulauf junger britischer Muslime zu extremen Organisationen ist das Versprechen einer Identität. Ismael setzt dagegen, mit originellen Veranstaltungen, wie dem Literaturwettbewerb open-mike oder mit poetry slams für Muslime. Alle nennen ihn wegen seiner enormen Körpergröße und freundlichen, ruhigen Ausstrahlung Kung Fu Panda.
Ismael: "Aber ich arbeite auch an anderen Dingen. Denn, wenn ich gleich herauskomme mit 'ich arbeite am Anti-Extremismus', dann denken die Leute sofort, ich sei von der Regierung. Daher mache ich auch Poetry Workshops, oder helfe Leuten, ihre Ideen für ihre eigenen oder für soziale Unternehmen umzusetzen. Und in diesen Workshops behandle ich dann eben auch die Gefahren Extremismus und Radikalisierung.”
Ismael hat auch gleich einen selbstgedichteten Song parat.
Ismael wird auch von dunkelhäutigen christlichen Eltern gerufen, deren Kinder zum Islam übergetreten sind. Natürlich haben sie in der heutigen Zeit Angst um ihre Schützlinge, könnte der Konfessionswechsel ja Zuwendung zum religiösen Extremismus bedeuten. Er lacht, denn er hält das für naiv.
Ismael: "Beruhigt euch, nicht alle Muslime sind böse. Immerhin können sie noch Hühnchen mit Reis essen."
Der Einfluss der sozialen Medien ist gefährlich
Wirklich gefährlich ist Ismaels Ansicht nach der Einfluss der sozialen Medien. Sie dringen ein in das Gedankengut der Jugendlichen, im eigenen Haus. Keiner sieht sie kommen, keiner kann sie kontrollieren.
Ismael: "Ich finde es besorgniserregend, dass bestimmte Leute das Töten von unschuldigen Menschen predigen und man diese Aufnahmen auf facebook, youtube und instagramm findet. Das macht mir Angst, denn wir leben in einer Zeit, in der die jungen Menschen alles online machen. Sie gehen nicht mehr zu Jugendclubs, sondern nach der Schule nach Hause, hoch in ihr Zimmer und sitzen dann den ganzen Tag am Computer. Das ist besorgniserregend. Meiner Meinung nach sollte diese ganzen Social Media Companies ihren Stolz runterschlucken und sagen: wisst ihr was, wir müssen uns mit den Grassroot Organisationen zusammentun, die, die die Arbeit an den Wurzeln leisten. Ob wir ihnen Geld zahlen oder sie bei uns einstellen, egal, aber sie müssen kommen und uns helfen dieses ganze extreme Material vom Netz zu nehmen.”
Jeder Tag beginnt mit einem Gebet
Ortswechsel, im Schein der aufgehenden Sonne, an der Südküste Englands, beginnt Anjum Khan jeden Tag mit einem Gebet. Danach geht er vor die Tür und füttert seine Hühner. Jeden Morgen dasselbe, er sammelt sich. Das ist wichtig für seine Arbeit, dass er selbst mit sich im Reinen ist, mit beiden Füßen fest verankert im Boden. Denn Anjums Arbeit setzt da an, wo Menschen den somalischen Frauen oder Ismaels Organisation entglitten sind, wo sich junge Muslime haben radikalisieren lassen: der Ende 40-jährige Brite pakistanischer Herkunft arbeitet als Therapeut und Berater beim britischen Home-Office, dem Innenministerium. Das weist ihm IS-Anhänger zu, die aus Syrien zurückgekehrt sind, oder radikalisierte Minderjährige, deren Eltern sich an das Ministerium wenden, weil sie alleine nicht mehr weiter kommen. In langen Gesprächssitzungen führt Anjum diese Menschen wieder zurück zu einem gesellschaftstauglichen Wertesystem. Seine Arbeit ist vergleichbar mit der eines Therapeuten in der Suchtentwöhnung, denn Rückfälle kann es jederzeit geben. Er ist Vermittler zwischen zwei Welten.
Anjum: "Auch wenn Mossul und der islamische Staat von hier sehr weit entfernt wirken, sind sie für uns relevant. Denn die Leute, mit denen ich arbeite, sie wissen alle sehr genau, was dort abgeht, in Mossul und Rakka. Dort haben sie ihren Blickpunkt, dort sehen sie ihre Be-stimmung. Für sie ist es die Erfüllung einer Heimat, einer islamisch geprägten Realität.”
Nach Aussagen der BBC sind bisher mindestens 800 Briten dem Ruf des Dschihad ge-folgt und nach Syrien und Irak gereist. Und mehr als die Hälfte von ihnen sind wieder zu-rückgekehrt, nach Großbritannien.
Anjum ist immer in Bewegung
Ein festes Büro hat Anjum nicht. Er muss in Bewegung sein, mit seinen Klienten Orte besuchen, die ihr Leben bestimmen, um zu verstehen, wo er ansetzen kann. Warum haben sich britische Bürger muslimischen Glaubens anstecken lassen, vom Gedankengut der Dschihadisten?
Er verabredet sich mit ihnen in Cafés oder unternimmt lange Autofahrten mit ihnen. Denn manchmal sind die Gesprächsfetzen, die da am Nachbartisch landen könnten, zu besorgniserregend, um für jedermanns Ohren zu taugen.
Anjum: "Wir bekommen eine Menge Leute, die einfach quatschen, aber dann hat man auch die, die echt sind, echte Täter und Aktivisten der Sache. Die strahlen etwas aus, etwas, das erkennen lässt, dass sie wirklich dort waren, sie erzählen keine Geschichte vom Hörensagen. Sie selbst sind die Geschichte.”
Die Britische Contest Strategie ist das von britischer Seite offiziell abgesegnete Programm der Terrorismusbekämpfung. Sie wurde 2003 entwickelt und wird seither immer wieder ergänzt. Heute verfolgt sie eine sogenannte Multi Agency Multi Discipline-Lösung – viele Behörden, viele Disziplinen – und sie stützt sich auf vier Säulen, die von Geheimdienst, Krankenhäusern hin bis zur Lehrerschaft getragen werden: Prevent, Pursue, Protect und Prepare, also vorbeugen, verfolgen, beschützen und vorbereitet sein. Anjums Arbeit zählt zu einer Unterkategorie von Prevent, dem Vorbeugen. Er gehört zu einem Stab von liberalen muslimischen Mentoren, die in Gesprächstherapien bereits radikalisierte Muslime aufklären sollen und somit verhindern, dass sie Schaden an der Gesellschaft anrichten. Er arbeitet dabei eng mit der Polizei zusammen. Um mit seinen sogenannten Klienten ins Gespräch zu kommen braucht er Geduld. Eine Einstellungsänderung dieser vermeintlichen oder tatsächlichen Terroristen erfolgt nicht nach ein oder zwei Gesprächsrunden. Es kann Jahre dauern, bis ein so radikalisierter Muslim wieder britische, europäische, humanitäre Werte schätzen lernt. Und manchmal muss die ganze Familie bei der Gesprächstherapie mitmachen:
Anjum: "Also, da war dieser Typ mit dem ich zusammenarbeitete, der zum islamischen Glauben übergetreten war. Seine Mutter gehörte keiner Konfession an, was nicht heißt, dass sie nicht an etwas glaubte. Aber jeden Morgen des Ramadan stand sie auf, um ihrem Sohn Essen zuzubereiten und am Abend kochte sie ihm ein besonderes Essen. Als sie dann Geburtstag hatte, beschloss er, da es im Islam das Konzept des Geburtstags nicht gibt, ihr noch nicht einmal eine Geburtstagskarte zu schenken. Und da sagte ich: Was? Deine Mutter stand 30 Tage lang jeden Tag für dich auf, um dich morgens und abends durchzufüttern und du hast noch nicht einmal den Anstand, ihr eine Karte zu schenken? Das ist erbärmlich, dass du keinen Respekt für deine Eltern hast. Und das hat ihn geschockt. Und obwohl es ein herausforderndes Gespräch mit ihm und seiner Familie war – wir hatten vorher abgeklärt dass es ein solches Gespräch geben würde – es hat etwas bewegt. Aber es war wichtig, vorher alle über das kommende Gespräch aufzuklären. Denn natürlich ist es super, wenn man ehrlich sein kann mit den Leuten, aber nicht jeder kann diese Ehrlichkeit vertragen. Darum muss man sehr achtsam entscheiden, was man den Leuten zumuten kann."
Dschihadisten zu überzeugen ist keine einfache Sache. Laut Anjum bringt es nichts, wenn er ihnen erklärt, dass das, was sie tun, falsch ist. Sie müssen selbst das Gefühl dafür ent-wickeln, dass die radikalen Ideen, denen sie anhängen, vielleicht nicht die Besten sind und vor allem, dass sie damit gegen das Gesetz verstoßen.
Nach zwei Sitzungen beginnen sie zu erzählen
Anjum: "Was spannend ist, nach zwei bis drei Sitzungen, beginnen sie mir Geschichten zu erzählen, über die wir diskutieren und die sie nun als ihre eigenen Erfahrungen ansehen. Und da beginnt es interessant zu werden: Es geht darum, ihnen eine bestimmte These oder einen bestimmten koranischen Text zu vermitteln, aber so, dass sie ihn aus ihrer Perspektive verstehen, dass nicht ich es bin, der ihnen die Lösung sagt. Und das ist beruhigend, denn das ist der klassische person centered approach – also personenbezogene Ansatz – zu verstehen, wie sie die Realität wahrnehmen, so dass sie sie für sich besetzen können. Niemand möchte etwas von anderen annehmen, selbst wenn du zur Schule gehst und einen Abschluss machst, dann sagst du doch nicht: der Lehrer hat mir das beigebracht, sondern, das habe ich selbst gelernt. Das Ego will immer die Bestätigung, dass man es selbst getan hat. So sind wir doch alle.”
Anjums Eltern besaßen einen Zeitungskiosk. Als Junge lernte er hier seinen Kunden mit all den unterschiedlichen politischen Meinungen zuzuhören, ohne es persönlich zu nehmen. Das kommt ihm heute zugute. Sein Erfolg bei der Vermittlerrolle im Dienste des britischen Innenministeriums leitet sich auch von seiner sozialen Herkunft ab: Er wuchs in den 70er-Jahren in Nairobi auf, als asiatischer Einwanderer.
Anjum: "Ich habe einen ostafrikanischen Hintergrund: ich bin aufgewachsen mit dem Erbe des britischen Kolonialismus, als Asiate, zwischen den Afrikanern und den weißen englischen Kolonialisten. Wir wurden als die Mittelschicht angesehen, die zwischen diesen beiden Gruppen vermittelte.”
Vorerst hat Anjum genug zu tun. Ende nicht absehbar. Bei einem Reggae-Lied vergleicht er den dumpfen Bass mit dem gesunden Menschenverstand, den er in seiner Arbeit immer herausfordern muss und lacht über seine Aufgabe.
Anjum: "Es ist der Herzschlag dahinter. Es geht um diesen ganzen radikalen Wahnsinn da draußen."