Den zweiten Teil des Gesprächs von René Aguigah Gegenwart lesen (2) - 1968: erinnern oder vergessen? können Sie hier nachlesen und nachhören.
"Die Rechte ist keine unterdrückte Minderheit"
Nur allzu gern sieht sich die politische Rechte derzeit als Opfer einer angeblich eingeschränkten Meinungsfreiheit. Für die Kulturwissenschaftler Aleida und Jan Assmann nicht nachvollziehbar: Die Rechte äußere sich nur allzu laut und werde auch gehört.
Der Begriff "Opfer" spielt in der öffentlichen Rede der Bundesrepublik schon lange eine prominente Rolle. Neu ist, dass die politische Rechte ihn für sich reklamiert – sei es die AfD im Bundestag, seien es Verlage der Neuen Rechten jüngst bei der Leipziger Buchmesse: Die Rechte sei Opfer von Ausschlussmechanismen in der öffentlichen Debatte, der "Meinungskorridor" sei zu schmal, um auch sie darin vorkommen zu lassen.
Diese Beobachtung steht am Anfang des Gesprächs mit der Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann und ihrem Mann, dem Ägyptologen Jan Assmann. Beide zeigen Unverständnis für diese Selbstwahrnehmung der Rechten:
"Ich finde, dass die Rechte in diesem Land und in anderen Ländern – Frankreich, Österreich – sich nur allzu laut äußert und gehört wird. Das ist die Hauptsorge, die Europa umtreibt: dass die Rechte mit ihrer Stimme immer hörbarer wird und sich immer breiter macht. Ich würde auf keinen Fall unterschreiben, dass das eine unterdrückte Minderheit ist, die sich nicht Gehör verschaffen kann", sagt Jan Assmann.
Und Aleida Assmann: "Ich habe den Eindruck, es gibt inzwischen ein Ritual, das dieser Gegenstimme immer auch einen Platz einräumt."
Dabei gehe es der Rechten nicht um Meinungsvielfalt, sondern um "die Gegenstimme gegen das System, in dem wir leben".
Die Rechte will den sozialen Rahmen verändern
Keine Gesellschaft, so Aleida und Jan Assmann, ist denkbar ohne einen "Rahmen" (ein Begriff des Gedächtnisforschers Maurice Halbwachs), der die Grenzen dessen umreißt, was sagbar ist und was nicht. Ein solcher sozialer Rahmen ist historisch veränderbar – und um dessen Veränderung scheine es der Rechten gegenwärtig zu gehen.
Ein anderes wiederkehrendes Motiv in der Rede der Rechten besteht darin, Deutschland als Opfer zu sehen. Als Beispiel dafür kommt "Finis Germania" zur Sprache, ein Buch des verstorbenen Historikers Rolf Peter Sieferle, das der Anataios Verlag im vergangenen Jahr veröffentlichte. Eine zentrale implizite Botschaft des Buches – die Deutschen litten nachhaltiger unter dem Holocaust als die Juden – lässt Jan Assmann an das Wort denken:
"Die Deutschen werden es den Juden nie verzeihen, dass die Juden von den Deutschen umgebracht wurden."
Und so kommentiert er: "Nach meinem Eindruck ist das, um es hart auszudrücken, ein krankes Buch."
"Opfer" ist ein wirkmächtiger Begriff geworden
Wie ist es gekommen, dass Opfer in der Sphäre der Politik ein so wirkmächtiger Begriff geworden ist? Zunächst verweist Aleida Assmann darauf, wie "doppelzüngig" das Wort Opfer im Deutschen ist. Das Englische etwa unterscheidet zwischen "victim" und "sacrifice". Während das "sacrifice" ein heroisches Opfer ist, das man aktiv erbringt – etwa die Soldaten in den beiden Weltkriegen –, erleidet das "victim" Gewalt passiv.
Jan Assmann erinnert daran, dass der Opferstatus das Privileg beinhalte, Wiedergutmachungsleistungen fordern zu können - beispielsweise die Armenier gegenüber den Türken. Dies aber sei eine historisch recht neue Entwicklung.
Als älteste Täter-Opfer-Geschichte betrachtet er die Unterdrückung des Volkes Israel in Ägypten, von der das Alte Testament erzählt. Aus dieser Unterdrückungsgeschichte folgten aber gerade keine politischen Restitutionsansprüche Ägypten gegenüber.
"Ganz im Gegenteil, dieser Mythos stiftet ein Gefühl der Zugehörigkeit: Die Ägypter gehören mehr zu uns als die anderen, sagten die Israeliten. Die haben uns das zwar angetan, aber Gott hat uns befreit, und wir haben ein gemeinsames Schicksal."
Verschiedene Opfergruppen konkurrieren um Aufmerksamkeit
Mit der Herausbildung der zeitgenössischen Erinnerungskultur seit etwa 1980 haben sich "Konkurrenzen" zwischen verschiedenen Opfergruppen ergeben. Diese seien allerdings zum Teil in "multi directional memory" übergangen, erklärt Aleida Assmann. Zum Beispiel:
"Wenn die Schwarzen in den USA ein Museum gründen und es 'American Holocaust' nennen, dann meinen sie damit nicht, dass es den jüdischen Holocaust nicht gäbe. Aber die ganze Art, darüber zu sprechen, Begriffe wie Zeugenschaft, sind der andere Gruppe entlehnt. So kann eine Gruppe von der anderen profitieren. Die Frage ist nur: Welche Opfer bekommen mehr Aufmerksamkeit?"
Jan Assmann erinnert an die Geschichte des Wortes "Holocaust", das wörtlich etwa "Ganzverbrennung" bei einem Tieropfer bedeutete. Ein religiöses Opfer aber, so Assmann, ist immer ein "kommunikativer Akt" mit einer Gottheit, und genau diese Dimension habe es beim Völkermord an den Juden nicht gegeben. Auschwitz ist kein Opfer, sondern "bare, sinnlose Vernichtung".
"Da sollten wir Gott aus dem Spiel lassen."
Schließlich wirft Aleida Assmann die Frage auf, ob die Rede Richard von Weizsäckers 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs doch auch religiöse Obertöne in der Erinnerungskultur mit ausgelöst hat – "zumindest in meiner 68er-Generation".
Buchhinweise:
Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, C. H. Beck, München 2013
Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, C. H. Beck, München 2013
Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, C. H. Beck, München 2015