Warum der Zugang zu staatlichen Archiven so wichtig ist
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Am 17. Juni wird das Stasi-Unterlagen-Archiv in das Bundesarchiv überführt. Der Aktenzugang aber bleibt erhalten. Eine Errungenschaft, wenn man die Unzugänglichkeit anderer bundesdeutscher Archive betrachtet, die auch von Historikern beklagt wird.
"Das Stasi-Unterlagen-Archiv ist ein besonderes Archiv", erklärt Roland Jahn, "weil: Es ist die Hinterlassenschaft einer Geheimpolizei. Und: Diese Stasi-Unterlagen wurden gesichert im Zuge der Friedlichen Revolution. Es ist eine Errungenschaft der Friedlichen Revolution, dass wir heute diese Akten nutzen können."
Roland Jahn ist der, so ist die genaue Bezeichnung, "Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik".
Mit der Erstürmung der Stasi-Zentrale in Berlin am 15. Januar 1990 und der Besetzung der Stasi-Zentralen in den Bezirken hatte die DDR-Bürgerbewegung die Öffnung der staatlichen Geheimdienstakten erzwungen. So entstand mit der Wiedervereinigung die Behörde, die umgangssprachlich nach ihrem ersten Leiter "Gauck-Behörde" genannt wurde, dann nach Jahns Vorgängerin "Birthler-Behörde".
"Es hat vielen, vielen Menschen geholfen"
Diese Behörde ist bald Geschichte. Am symbolträchtigen 17. Juni, dem Tag des Volksaufstands in der DDR 1953, wandert sie unter das Dach des Bundesarchivs. So hat es der Bundestag 2016 beschlossen. Die Akten bleiben jedoch zugänglich.
"Sie sind wichtige Quellen, um Geschichte zu beschreiben, und vor allem: Es hat vielen, vielen Menschen geholfen, in ihren Akten, ja, ein Stück ihrer Selbstbestimmung wieder zurückzubekommen", sagt Roland Jahn. "Und grade die persönliche Akteneinsicht ist ganz, ganz wichtig. Es waren ja über drei Millionen Anträge, die wir in den letzten Jahren bearbeitet haben, wo Menschen Einsicht erlangt haben in die Akten, in die Informationen, die über sie gesammelt worden sind.
Die Akteneinsicht hatte oftmals eine ganz persönliche Bedeutung, das zeigt das Beispiel von Ulrike Poppe in der Ausstellung "Einblick ins Geheime", wo das Schicksal der ehemaligen Bürgerrechtlerin eindrucksvoll dargestellt wird.
"Sie erzählt, was es für sie bedeutet hat, in die Akten hineinschauen zu können. Sie erzählt so wirklich banale Alltagsgeschichten, dass sie oft mit ihren zwei kleinen Kindern zum Konsum fuhr zum Einkaufen auf dem Fahrrad, mit vollbepackten Taschen dann zurückwollte. Und dann kam sie raus, und da waren die Reifen platt", erklärt Dagmar Hovestädt, Pressesprecherin der Stasi-Unterlagen-Behörde bei einem Rundgang durch die Ausstellung.
"Und sie dachte schon damals, das kann nicht sein, dass schon zum dritten Mal wieder die Reifen platt sind. Und dachte sich schon, dass das die Stasi war. Aber dann hat sie gesagt, da kann man mit niemand darüber reden, weil die Leute hätten doch gedacht, ich bin durchgeknallt, wenn ich wegen jedem kleinen Alltagsding die Stasi zur Verantwortung ziehe", sagt Dagmar Hovestädt.
"Aber deswegen war es so wichtig, dass die Akten da sind. Weil, dann konnte man das belegen, dass es wirklich so war und dass es darum ging, uns auch im Alltag mit all diesen kleinen Schikanen einfach mürbe zu spielen, damit wir endlich aufhören, das System infrage zu stellen."
Akteneinsicht zeigt das Ausmaß der Überwachung
Ulrike Poppe erfuhr, dass es tatsächlich die Stasi war, die ihre Reifen zerstach. Die Stasi sorgte dafür, dass sie nicht studieren konnte, dass sie keine ordentliche Wohnung bekam, dass sich Freunde von ihr abwandten, weil sie Gerüchten der Stasi glaubten. Das Ausmaß der Überwachung und Verfolgung wäre ohne die Akteneinsicht nie bekannt geworden.
Das weiß auch Roland Jahn aus eigener Erfahrung. Er war als oppositioneller Friedensaktivist aus Jena inhaftiert und 1983 gegen seinen Willen ausgebürgert worden. In Westberlin arbeitete er als Journalist beim Sender Freies Berlin. Er berichtete auch über die Auflösung der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg im Januar 1990.
"Ich hatte das Privileg, dass ich schon als Journalist damals bei der Auflösung durch das Bürgerkomitee hier eine erste Akteneinsicht vornehmen konnte. In dieser Hinsicht war ich schon doch ein bisschen auch erschrocken. Vieles, was man geahnt hat, hat man plötzlich in den Akten gesehen, schwarz auf weiß", erzählt er.
"Das ging schon auch unter die Haut, weil es ja ein Eingriff war in das Leben, nicht nur in mein Leben, sondern auch das meiner Familie. Wenn man dann sieht, dass selbst in Westberlin die achtjährige Tochter auf dem Schulweg überwacht worden ist, da ist man dann schon erschrocken."
Stasi-Unterlagen-Gesetz bleibt auch im Bundesarchiv in Kraft
Berlin-Lichtenberg, Normannenstraße: Hier, auf dem ehemaligen Gelände des Ministeriums für Staatssicherheit, kurz MfS, befindet sich das Stasi-Unterlagen-Archiv. Diesen Standort wird es behalten, auch unter dem Dach des Bundesarchivs.
Rechtsgrundlage für das Stasi-Unterlagen-Archiv war seit 1990 das Stasi-Unterlagen-Gesetz mit den besonderen Zugangsbestimmungen und Regelungen für die Erfassung und Verwendung der Unterlagen. Dieses Gesetz sollte nicht außer Kraft gesetzt werden, das machte der Gesetzgeber zur Bedingung für die Überführung des Stasi-Unterlagen-Archivs in das Bundesarchiv. Eine entsprechende Novellierung des Bundesarchivgesetzes hat der Bundestag im November 2020 beschlossen.
"Ja, das war uns ganz besonders wichtig, dass dieses Stasi-Unterlagengesetz weiter die Grundlage der Aktennutzung ist, denn das Stasi-Unterlagengesetz hat sich bewährt. Und in dem Sinne ist es eine Grundlage dann auch für die nächsten Jahre hier, der Gesellschaft die Akten zur Verfügung zu stellen", sagt Roland Jahn.
Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, kurz BStU, und das Bundesarchiv haben ein gemeinsames Konzept für die Zusammenführung der Archive erarbeitet, auch für die Akten in den regionalen Standorten in den ostdeutschen Bundesländern.
"Dort sind sie angelegt worden und dort sind sie auch in der Friedlichen Revolution erobert worden. Und es ist ein wichtiges Anliegen der Bundesländer gewesen, dass hier diese Akten dann auch für die Zukunft gesichert und nutzbar gemacht werden", erklärt Roland Jahn.
Regionale Bündelung der Bestände geplant
Da gibt es noch viel zu tun. Denn die Unterlagen haben 40 Jahre lang unter schlechten Bedingungen gelegen, die alles andere als archivadäquat waren. Es ist geplant, die Aktenbestände in den Regionen zu bündeln, in jedem Bundesland soll ein Archivstandort entstehen mit neuen Gebäuden, in denen die Bestände sicher lagern und nicht länger vom Verfall bedroht sind.
An den Orten, die dann kein Archiv mehr beherbergen, soll es weiterhin möglich sein, Akten einzusehen und sich beraten zu lassen. Schon seit Jahren arbeiten der BStU und das Bundesarchiv vor allem im Bereich der Digitalisierung zusammen.
Eine Mammutaufgabe sei es, zwei separate Verwaltungen ineinander führen zu müssen, erläutert der Präsident des Bundesarchivs, der Historiker Professor Michael Hollmann.
"Weil wir es uns als eine Behörde natürlich nicht leisten können, in Zukunft zwei Justiziariate, zwei Organisationsreferate, zwei Personalreferate und so was zu haben. Wir sind da mittlerweile so weit, dass wir am 17. Juni tatsächlich dann eine Verwaltung mit klaren und nicht konkurrierenden Aufgaben und Zuständigkeiten haben", erläutert der Historiker.
"Das war eine Herkulesarbeit der daran beteiligten Kolleginnen und Kollegen und mit einer Menge Kompromissbereitschaft und Wille zum Ziel verbunden. Darauf bin ich sehr stolz, dass wir das geschafft haben, gemeinsam mit den Kollegen vom BStU."
Berliner Standort des Bundesarchivs ist der größte
Formal ist das Bundesarchiv eine obere Bundesbehörde, die der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien unterstellt ist. Die Hauptdienststelle befindet sich in Koblenz. Die Behörde hat neun weitere Standorte, einer davon liegt in Berlin Lichterfelde in der Finckensteinallee auf dem Gelände der ehemaligen Preußischen Hauptkadettenanstalt.
Die Gebäude waren 1933 von der Waffen-SS als Kaserne umgewidmet worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die amerikanischen Besatzungstruppen das Grundstück mit den zum Teil zerstörten Gebäuden, die nun "Andrew-Barracks" hießen. Nach dem Abzug der Alliierten aus Berlin 1994 fand die Berliner Dienststelle des Bundesarchivs auf dem Grundstück ihren Platz. Die Dienststelle in Berlin-Lichterfelde ist räumlich und personell die größte Einrichtung des Bundesarchivs mit besonders hohem Benutzungsaufkommen.
Hier verwahrt das Bundesarchiv neben dem staatlichen Archivgut zentraler und militärischer Stellen des sogenannten Dritten Reichs Unterlagen der NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände. Dazu zählt vor allem die Zentrale Mitgliederkartei der NSDAP mit rund 12,7 Mio. Karteikarten.
Ein weiterer großer Bestand betrifft die ehemalige DDR, Unterlagen aus den Ministerien und den Behörden, die republikweit gearbeitet haben. Deren Akten könnten eigentlich erst 30 Jahre nach ihrem Entstehen eingesehen werden: So sieht es das Bundesarchivgesetz vor.
Doch für den DDR-Bestand gilt diese Frist nicht. Und diese Freigabe gilt nicht nur für die Akten von DDR-Behörden, erklärt der Bundesarchiv-Präsident Michael Hollmann:
"Die DDR war ja nun kein Stasi-Staat, sie war eigentlich ein SED-Staat. Wir haben auch die Unterlagen der SED und der Massenorganisationen, die was die Formierung der DDR-Gesellschaft angeht, leicht und zu gerne übersehen werden mit ihrer funktionalen Bedeutung. Diese Unterlagen befinden sich im Bundesarchiv in einer Stiftung. Aber sie werden behandelt wie Archivgut des Bundes, und da gibt es gar keine Unterschiede. Da sorgen wir dafür, dass ein Großteil, nämlich der Staat und der Bereich, der diesen Staat eigentlich gelenkt hat, jetzt schon zugänglich ist."
Ombudsperson für Opfer der SED-Diktatur geplant
Das betrifft also die Unterlagen der DDR-Regierung, -Ministerien und -Behörden. Dass die Stasi-Unterlagen jedoch weiterhin nach eigenen Regeln behandelt werden, nämlich nach dem Stasi-Unterlagengesetz, hält Hollmann für richtig und notwendig.
"Denn hier wird eben doch in einem Maße in das Leben von Menschen eingegriffen, auf menschenrechtswidrige Weise, dass man auf der einen Seite zwar sagen muss, es ist richtig und wichtig, diese Unterlagen zu bewahren und auch einem Archiv zu überlassen", sagt er. "Aber es ist auch richtig und wichtig, sie zumindest eine gewisse Zeit lang noch unter einen besonderen rechtlichen Schutz zu stellen."
In diesem Zusammenhang sieht Hollmann auch das geplante Amt eines oder einer "Opferbeauftragten". Die Behörde von Roland Jahn, der im Juni dieses Jahres in den Ruhestand geht, soll in diese Richtung weiterentwickelt werden. Das neue Amt wird beim Bundestag angesiedelt sein und als Ombudsperson für die Anliegen der Opfer der SED-Diktatur wirken.
"Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen. Nach all den Jahren der Stagnation. Der geistigen, wirtschaftlichen, politischen. Den Jahren von Dumpfheit und Mief", sagte der Schriftsteller Stefan Heym bei der Berliner Großdemonstration am 4. November 1989.
Heute sind auf dem früheren Gelände der Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg bauliche Veränderungen geplant – für die Forschungsabteilung, Ausstellungen und Veranstaltungsräume. Auch die Robert-Havemann-Gesellschaft, die bereits die Open-Air-Ausstellung "Revolution und Mauerfall" auf dem Stasi-Gelände konzipiert hat, soll einen Platz in einem der dann renovierten Gebäude finden.
"Neues schaffen, um das Alte zu bewahren"
Der Beauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, spricht gern von einem "Campus für Demokratie".
"Wir bewahren sozusagen den Kern, das Stasi-Unterlagen-Archiv und die Errungenschaft des Zugangs zu diesen Akten, indem wir einen neuen Kontext schaffen, indem wir zeitgemäß uns den Herausforderungen stellen", erklärt er. "Der Digitalisierung, der Nutzungsmöglichkeiten, die im digitalen Zeitalter gegeben sind, aber auch den Herausforderungen der Bestandserhaltung, also der Erhaltung der Akten als körperliche Gegenstände. Auch das ist ja wichtig. Und dazu braucht man natürlich neue Gebäude, klimatisierte Räume, die das möglich machen."
Dass die Stasi-Unterlagenbehörde aufhören wird, zu existieren, sieht Roland Jahn nicht als Problem. Er teilt auch nicht die Bedenken, die von früheren DDR-Bürgerrechtlerinnen geäußert wurden, die "Erinnerung an die friedliche Revolution würde an Relevanz" verlieren, oder die Unterlagen würden "im Bundesarchiv versenkt". Jahn hält es mit der Devise "Neues schaffen, um das Alte zu bewahren".
Unmut über beschränkten Zugang zu Archiven
Die Übergabe des Stasi-Unterlagen-Archivs an das Bundesarchiv scheint auf einem guten Weg zu sein. Kritische Stimmen – vor allem von Historikerinnen und Historikern – gibt es in anderen Archiv-Bereichen.
Bei Behörden- und Justizakten, die nicht zum Bestand des Bundesarchivs gehören – bei Akten, die noch bei den Gerichten lagern oder in Privatarchiven: Da gibt es erheblichen Unmut über Zugangsbeschränkungen.
Die Historikerin Annette Weinke, Professorin an der Universität Jena, hat zusammen mit dem kürzlich verstorbenen früheren Richter am Bundesverwaltungsgericht Dieter Deiseroth ein Buch zu diesem Thema herausgegeben. "Zwischen Aufarbeitung und Geheimhaltung" ist der Titel.
"Zum einen gab es im Jahr 2010 eine Tagung des Rechtshistorikertags in Münster. Und diese Tagung endete mit einer Resolution, in der darauf hingewiesen wurde, dass also doch schon seit geraumer Zeit dort Schwierigkeiten bestehen bei der Zugänglichmachung von Justizakten", erzählt sie. "Konkret ging es um die Akten des Bundesverfassungsgerichts. Und es wurde die Forderung aufgestellt, dass dort der Gesetzgeber jetzt auch mal tätig werden müsse, um die archivrechtliche Situation grundlegend und deutlich zu verbessern."
Gerangel um die Unterlagen des Bundesverfassungsgerichts
Jahrzehntelang waren die Akten des Bundesverfassungsgerichts unter Verschluss. Die Urteile und Beschlüsse sind in inzwischen 154 Bänden veröffentlicht, das ist die amtliche Sammlung des Gerichts. Aber wie die Entscheidungen zustande gekommen und wie die Richterinnen und Richter zu ihren Schlüssen gelangt sind, wie die Rechtsgespräche im Beratungszimmer abliefen, das sollte ein Geheimnis bleiben.
Das Bundesarchiv sollte die Prozessakten zwar in Koblenz stapeln, weil in Karlsruhe kein Platz mehr war. Aber unter Verschluss: Zu Archivgut durften die Unterlagen nicht gemacht werden.
Erst 2013 wurde das Bundesverfassungsgerichtsgesetz so geändert, dass die Prozessakten nun nach 30 Jahren, die Handakten der Richter nach 60 Jahren eingesehen werden dürfen. 60 Jahre: Das ist eine Verdoppelung der Fristen, die nach dem Bundesarchivgesetz üblich sind.
Das Bundesverfassungsgericht hatte 1983 mit seinem grundlegenden "Volkszählungsurteil" zur informationellen Selbstbestimmung das Tor zu einer modernen Archivgesetzgebung aufgestoßen.
Dass sich das Gericht bis heute seiner eigenen Geschichte auf der Grundlage weitreichender Sonderbestimmungen entzieht, wertet Annette Weinke als eine der großen "Ironien der bundesrepublikanischen Rechts- und Demokratiegeschichte". Die Historikerin ist im Beirat des Vereins "Forum Justizgeschichte". Beiratsmitglied war auch ihr Mitherausgeber Dieter Deiseroth, ehemaliger Bundesverwaltungsrichter, der vor Fertigstellung des Buches starb und dem die Historikerin das Buch gewidmet hat.
Wichtige Grundvoraussetzung für die Geschichtsschreibung
Er schreibt: "Die Archivierung der schriftlichen und digitalen Regierungs-, Behörden- und Justiz-Akten und Unterlagen ist zugleich ein zentrales Grundelement der Herstellung demokratischer Öffentlichkeit über hoheitliches Handeln und damit auch eine wichtige Grundvoraussetzung für unsere Geschichtsschreibung. Denn schriftliche und digitale Akten sind für die historische Forschung, insbesondere auch für die Zeitgeschichtsforschung, wichtige Quellen der Erkenntnisgewinnung."
2005 begann eine unabhängige Historikerkommission ihre Arbeit zur Geschichte des Auswärtigen Amtes im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik. 2010 erschien das opulente Werk, das neue Maßstäbe in der Behördenforschung setzte. Annette Weinke gehörte zum Team der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die das Buch verfassten.
"Und diese Behördenforschung läuft ja seitdem mit sehr großem Schwung, mit sehr großer Intensität", sagt sie. "Das hat uns dazu motiviert, jetzt einfach mal danach zu fragen: Warum haben eigentlich die Gerichte, vor allem die Obergerichte in der Bundesrepublik, warum sind die eigentlich nicht aufgesprungen auf diesen Zug der Behördenforschung?"
Behördenforschung war nicht ganz neu. So erschien 2010 das Buch des Berliner Rechtssoziologen Hubert Rottleuthner über "Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen vor und nach 1945", für das er zehn Jahre lang die Karriereverläufe von mehr als 34.000 Richtern und Staatsanwälten rekonstruierte, die zwischen 1933 und 1964 im Justizdienst standen.
Hindernisse für Forschung bis heute nicht überwunden
Er hatte jedoch keinen Zugang zu Justizpersonalakten, was Annette Weinke scharf kritisiert: "Man bleibt da eben angewiesen auf Handbücher, in denen aber dann sozusagen eigentlich nur das steht, was die Juristen auch selbst über sich verbreitet wissen wollen. Also, das zeigt schon mal auf, dass es da wirklich immanente Hindernisse gibt, die meiner Meinung nach eben bis heute auch nicht überwunden sind."
Als weiteres Beispiel nennt Annette Weinke das 2005 erschienene Buch von Klaus-Detlev Godau-Schüttke über den Bundesgerichtshof. Als Einzelforscher, von Beruf Richter, erhielt er selektiven Zugang zu den Personalakten.
"Und das ist natürlich kein Muster, was irgendwie für die Forschung Vorbild gebend sein kann", kritisiert sie. "Denn es ist eben nicht möglich, eine vernünftige historische Forschung zu entwickeln, wenn man einzelnen ausgesuchten Personen privilegierten und exklusiven Zugang zu den Akten gibt und die Akten danach wieder unter Verschluss nimmt."
Personenbezogene Daten sind besonders geschützt. Auch das richterliche Beratungsgeheimnis und die richterliche Unabhängigkeit sind besonders hohe Rechtsgüter. Das müsse berücksichtigt werden, meint Annette Weinke.
"Wissenschaftsfreiheit ist ein wichtiger Maßstab"
"Das kann aber kein Pauschalargument sein, um Akten einfach entweder gar nicht abzugeben oder sie letztlich dann der Forschung nicht zur Verfügung zu stellen", sagt sie. "Es kann nicht der Personenschutz über allem stehen und auch nicht das richterliche Beratungsgeheimnis dann eben als eine Art Ewigkeitsklausel dort verankert werden, um den Zutritt zu verwehren. Die Wissenschaftsfreiheit ist ein wichtiger Maßstab, der dann auch im Einzelnen abgewogen werden muss."
Im November 2016 legte die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien ein neues Programm zur Erforschung von NS-Kontinuitäten an Bundesbehörden auf, mit Forschungsgeldern von vier Millionen Euro. Zu den geförderten Projekten gehört zum Beispiel "Das Kanzleramt. Bundesdeutsche Demokratie und NS-Vergangenheit".
Die Auswahl traf eine unabhängige Fachjury. Unter den Antragstellern gab es keine Projekte, die sich mit einem Bundesgericht befassten. Umso erstaunlicher fand es Historikerin Annette Weinke, dass es offenbar doch bereits laufende Projekte gibt, nämlich zum Bundesgerichtshof und zum Bundessozialgericht. Das wurde durch die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke bekannt.
"Daraus kann man eigentlich nur die Schlussfolgerung ziehen, dass diese Projekte, die jetzt gerade laufen, dass die im Grunde freihändig vergeben worden sind", sagt die Historikerin.
Fehlende Transparenz
Also ohne ein transparentes Auswahlverfahren. Ein Unding, meint auch John Philipp Thurn, Richter am Sozialgericht Berlin. Er engagiert sich wie Annette Weinke im Verein "Forum Justizgeschichte". Er wollte es genauer wissen und fragte bei den Bundesgerichten nach.
Zunächst beim Bundesgerichtshof: "Habe ich so verstanden, dass sie reagiert haben, mehr oder weniger auf eine Anfrage von einem Historiker und einem Juristen von der Universität Mainz, die eben zum richtigen Zeitpunkt jedenfalls die Idee hatten, dort anzufragen. Und dann hat der Bundesgerichtshof offenbar darauf reagiert und hat das angenommen."
Beim Bundesverwaltungsgericht will man die Sache offenbar selbst in die Hand nehmen. Der Präsident des Gerichts Rennert, der kurz vor der Pension steht, kündigte beim Jahrespressegespräch Anfang März 2021 an, gemeinsam mit der Universität Leipzig würden die Amtszeiten der Richterinnen und Richter in den Jahren zwischen 1953 und 1959 in den Blick genommen und auf "braune Spuren" hinüberprüft. (*)
"Aus einem, durchaus sympathischem Eigeninteresse an Geschichte scheint da der aus geschichtswissenschaftlicher Sicht vermutlich sehr fragwürdige Impuls jetzt zu folgen, dass man die Forschung gar nicht aus der Hand gibt", sagt John Philipp Thurn. "Also gar keine unabhängige Forschung durch eine unabhängige Stelle letztlich ermöglicht, sondern dass man selber mitforscht und mit Kooperationspartnern, die man sich selbst eben ausgesucht hat von der örtlichen Universität in Leipzig und am Bundesarchiv."
Seit bekannt wurde, dass in einer Art "Ahnengalerie" am Bundesarbeitsgericht Erfurt die Foto-Porträts NS-belasteter ehemaliger Richter hängen, sah sich das Gericht mit der Frage konfrontiert, ob es nicht an der Zeit sei, ein Forschungsprojekt in Auftrag zu geben. Zunächst ließ sich die Gerichtspräsidentin Zeit, es gebe keinen Grund zur Eile.
Bundesarbeitsgericht will Historikerkommission einsetzen
Aber im Rahmen des Jahrespressegesprächs Ende Februar teilte sie mit, das Bundesarbeitsgericht werde eine unabhängige Historikerkommission mit der Aufarbeitung von NS-Belastungen seiner ersten Richter beauftragen. John Philipp Thurn erfuhr von der Pressesprecherin, dass man bereits an der Formulierung der Ausschreibung arbeite. Vielleich kommt wenigstens hier ein kritisches und unabhängiges Forschungsprojekt zustande.
Im Buch von Annette Weinke und Dieter Deiseroth wird ein weiteres heikles Problem im Umgang mit Justiz- und Behördenakten beschrieben: Es gibt immer wieder politische Akteure, die ihre Akten nicht – wie vorgeschrieben – im Bundesarchiv abgeben, sondern mit nach Hause nehmen oder in einem Privatarchiv lagern.
"Ja, das ist eine der Wunden, die auch das Gesetz nicht schließen konnte", sagt Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs. Das Gesetz sieht eine Abgabepflicht der Behörden, aber keinen Herausgabeanspruch des Archivs vor, wenn jemand seiner Pflicht nicht nachkommt.
"Nehmen Sie Egon Bahr und die Ostverträge. Die zentralen Unterlagen dazu befinden sich in seinem Nachlass, nicht in den Akten des Kanzleramts oder des Auswärtigen Amtes. Und das ist eine Sache, die wir gerne bereinigt gesehen hätten in dem Sinne, dass der Gesetzgeber einen Herausgabeanspruch des Bundesarchivs definiert hätte", sagt Michael Hollmann.
"Dazu hat er sich nicht durchringen können. Das war damals unser Anliegen, unser Ansinnen. Und in den frühen Referentenentwürfen war ein solcher Herausgabeanspruch auch da. Aber dazu hat er sich nicht bereitfinden können."
Schwieriger Zugang zu Privatarchiven
Für die Forschung ist es mitunter sehr schwierig, an Unterlagen in Privatarchiven heranzukommen. Diese Erfahrung macht die Journalistin Gaby Weber seit vielen Jahren. Sie forscht zum Beispiel über Vorgänge um den Kriegsverbrecher Adolf Eichmann, in diesem Zusammenhang auch zu Hans Globke, Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, der später Chef des Kanzleramts unter Adenauer wurde.
Die Unterlagen dazu müssten als Behördenakten eigentlich im Bundesarchiv liegen. Hier werden Akten 30 Jahre nach ihrem Entstehen zugänglich, personenbezogene Unterlagen zehn Jahre nach dem Tod der Person. Stattdessen lagern die Akten, die Gaby Weber für ihre Forschung braucht, in der Konrad-Adenauer-Stiftung, einem Privatarchiv.
In zahlreichen Prozessen versucht die Journalistin, ihr Recht durchzusetzen. Rechtsanwalt Raphael Thomas vertritt sie in den Klageverfahren.
"Die Anfragen wurden zum Teil abgelehnt. Im Wesentlichen gab es dafür drei, vier, drei Gründe. Ein Grund war, dass die Erben von Globke einer Zugänglichmachung der Akten nicht oder noch nicht zugestimmt hätten", erzählt er.
"Der zweite Grund war, dass bestimmte Aktenteile als vertraulich gestempelt seien und deshalb für meine Mandantin nicht einsehbar seien. Der dritte Grund war, dass die Aufarbeitung dieser Akten oder Aktenbestandteile vorrangig durch eigene Forscherteams, die von der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Beispiel engagiert werden sollten, erfolgen solle."
Besonders harte Nuss: Globke-Akten der Adenauer-Stiftung
Rechtsanwalt Thomas und seine Mandantin gingen durch alle Instanzen: Verwaltungsgericht, Oberverwaltungsgericht, Bundesverwaltungsgericht. Als der Rechtsweg erschöpft war, führte der Weg nach Karlsruhe.
"Wir sind anschließend beim Bundesverfassungsgericht recht erfolgreich mit unserer Argumentation durchgedrungen, dass ein Zugang zu diesen Akten bestehen muss, denn diese Akten sind mit Steuergeldern erstellt worden. Diese Akten tragen oben Geheimhaltungsvermerke. Die Akten sind mit Bundeskanzleramt überschrieben und mit Bundeskanzler unterzeichnet", erzählt Raphael Thomas.
"Unsere Argumentation war, dass die Akten nun nach dem Bundesarchivgesetz ganz eindeutig ins Bundesarchiv gehören, dass sie zum Gedächtnis des Staates gehören, dass jeder Bürger, insbesondere natürlich Journalisten und Forscher, Zugang zu diesen Akten haben müssen und dass sich schon aus dem Grundgesetz ein solcher Anspruch ergibt."
Trotzdem wurde die Verfassungsbeschwerde verworfen. Gaby Weber hätte nicht das Bundesarchiv auf Herausgabe verklagen sollen, sondern die Bundesregierung als aktenführende Stelle. Also ging der Klageweg von Neuem los. Die Journalistin ist hartnäckig, sie gibt nicht auf. Über die vielen Prozesse, in denen sie auch Teilerfolge erzielte, hat sie bereits Filme im Internet veröffentlicht.
"Erst mal möchte ich hier hervorheben, dass meine Mandantin Dr. Gaby Weber, die sich seit nun 20 Jahren um die Herausgabe und Freigabe von Akten engagiert, dass ihr da tatsächlich ein Riesenverdienst zukommt", sagt ihr Rechtsanwalt.
"Denn das muss man erst mal durchhalten, finanziell, und die entsprechende Energie haben, hier tatsächlich über zehn Jahre um Akten zu kämpfen. Der Erfolg des Bundesverfassungsgerichts gibt uns aber recht, dass dieser Kampf viel wert ist. Und der Dank, den wir von vielen anderen Wissenschaftlern auch dafür erhalten haben."
Streit um Unterlagen aus Kohls Kanzlerschaft
Die Unterlagen aus der Kanzlerschaft von Helmut Kohl sind ebenfalls nicht ins Bundesarchiv gelangt. Sie befinden sich zu einem wesentlichen Teil im Keller des Privathauses von Helmut Kohl, das mittlerweile seine Witwe Maike Kohl-Richter bewohnt. Sie behauptet, auch gegenüber dem Bundesarchiv, es handele sich lediglich um private Unterlagen. Das bezweifelt Raphael Thomas.
Er gibt sich kämpferisch: "Das gehört offiziell geklärt, zur Not durch einen Staatsanwalt, welche Akten da sind. Denn wenn man sagt: Das sind amtliche Regierungsstücke, deren Eigentum bei der Bundesregierung nach wie vor liegt, oder beim Staat, dann kann es nicht sein, dass Maike Kohl-Richter darüber entscheidet, wer Zugang zu diesen sehr wichtigen Dokumenten rund um die Wiedervereinigung und so weiter und so fort erhält."
Dieter Deiseroth schreibt: "Regierungsakten sind ein wichtiger Bestandteil des ‚Gedächtnisses der Demokratie‘, hängt doch die Funktionsfähigkeit einer demokratischen und rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft nicht zuletzt von der Publizität der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit und damit von einer korrekten und vollständigen Archivierung der Entscheidungsvorgänge ab. Das galt und gilt auch für Akten über das Behördenhandeln unterhalb der Regierungsebene."
Aktenzugang belebt die Demokratie
"Wenn man in einer lebendigen Demokratie lebt und auch immer wieder über die Weiterentwicklung von Zuständen, Veränderungen, Situationen, Prozessen sprechen möchte, ist es aus meiner Sicht zumindest essenziell, dass man versteht, wie die Dinge zustande gekommen sind, um auch die spezielle ‚raison d'etre‘ in den Dingen begreifen zu können und dann auch die Entwicklung aus diesem Geist heraus betreiben zu können", sagt Michael Hollmann.
"Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten", sagt Roland Jahn.
"Das ist einfach Kennzeichen der Demokratie, eines Rechtsstaates, dass Sie bestimmten Entscheidungen, die Sie für willkürlich halten, überprüfen können", sagt Raphael Thomas.
"Wie man sieht, wie autoritäre Regime versuchen, Menschen, die widerstehen oder ihre Rechte einfordern, klein zu spielen, dann findet sich das in diesen Akten pausenlos wieder, und es ist immer eine Ermutigung, das Gut der Demokratie wirklich als solches zu begreifen", sagt Dagmar Hovestädt.
"In freier Selbstbestimmung wollen wir die Einheit und Freiheit Deutschlands vollenden", erklärte Richard von Weizsäcker am 3. Oktober 1990.
Als 1989 die Mauer gefallen war, begann der Niedergang der parteiunabhängigen Bürgerbewegung in der DDR. Doch in diesem Punkt hat sie ein bis heute sichtbares Zeichen für das wiedervereinigte Deutschland gesetzt: dass die Bürgerschaft in einer Demokratie ein Recht hat, staatliches Handeln durch Aktenstudium durchleuchten zu können. Das bleibt, auch wenn am 17. Juni die Stasi-Unterlagen dem Bundesarchiv zugeordnet werden.
*Redaktioneller Hinweis: Wir haben den Vornamen des Präsidenten korrigiert.