Geheimnisse im Zahnstein

Was Bakterien im Mund unserer Vorfahren verraten

Das Zungenbein (v.r.) und zwei Unterkiefer von rund 60.000 Jahre alten Neandertalern, aufgenommen in der Ausstellung "ROOTS // Wurzeln der Menschheit" im Rheinischen Landes Museum in Bonn im Jahr 2006
Es sieht so aus, als hätten wir heutzutage sehr ähnliche Bakteriengemeinschaften in unserem Mund, wie die Neandertaler, sagen Forscher. © picture-alliance/dpa/Jörg Carstensen
Von Christine Westerhaus |
Zahnstein kennt vermutlich jeder: Das ist dieser lästige Belag auf den Zähnen. Und er wird intensiv erforscht. Ein Team aus Dänemark konnte nun die Mundflora von Menschen aus dem Mittelalter rekonstruieren. Aber der Zahnstein verrät noch viel mehr.
Bei diesem Geräusch läuft vielen Menschen ein kalter Schauer über den Rücken. Es ist ein Ultraschallgerät, mit dem Zahnärzte den Zahnstein entfernen. Dass es solche Geräte im Mittelalter noch nicht gab, ist für Forscher aber ein echter Segen. Denn inzwischen ist klar, dass sich aus dem Zahnstein viele spannende Dinge über die Lebensweise eines Menschen ablesen lassen, erklärt Christina Warinner, die am Max-Planck Institut für Menschheitsgeschichte in Jena forscht.
"Zahnstein ist so etwas wie eine natürliche Falle für alles, was durch unseren Mund geschleust wird. Von allem, was wir in den Mund nehmen, werden Rückstände darin gespeichert: Nahrung oder Dinge aus der Umwelt zum Beispiel. Und das Tolle ist, dass sich der Zahnstein Schicht für Schicht auf den Zähnen ablagert. Deswegen ist er ein fantastischer Zeuge der Lebensgeschichte eines Menschen. Quasi eine kleine Zeitkapsel, die jeder auf seinen Zähnen trägt."
Erst seit wenigen Jahren ist es möglich, in diese Zeitkapsel hinein zu schauen und all die Informationen zu entschlüsseln, die im Zahnstein gespeichert sind. Darin findet sich vor allem die Erbsubstanz der Bakterien, die im Mund leben. Aber auch Stoffwechselprodukte wie Proteine, also Eiweiße lagern sich dort ab. Und sie bleiben noch viele Jahre erhalten – auch lange nachdem ein Mensch verstorben ist.
In einer soeben veröffentlichten Studie haben Forscher aus Dänemark die Bakterien im Zahnstein von Menschen aus dem Mittelalter untersucht. Diese haben zwischen 1100 und 1450 gelebt und liegen jetzt auf einem Friedhof im Nordwesten Dänemarks begraben.
"Wir konnten diese 21 Menschen in zwei Gruppen unterteilen: Die eine Gruppe hatte gesündere Zähne, als die andere. Außerdem haben wir unsere Proben mit dem Zahnstein heute lebender Menschen verglichen und dabei gesehen, dass die Individuen mit den gesünderen Zähnen ähnliche Bakteriengemeinschaften im Mund hatte, wie wir heutzutage. Bei der Gruppe mit den schlechteren Zähnen fanden wir hingegen vermehrt Bakterien, die an der Entstehung von Parodontose oder anderen Krankheiten beteiligt sind."
Jesper Olsen von der Universität von Kopenhagen in Dänemark.

Welche Bakterien sind aus der Mundflora verschwunden?

Warum es im Mittelalter diese auffälligen Unterschiede gab, wissen die Forscher bisher nicht. Möglicherweise haben aber Ernährung und Lebensweise dafür gesorgt, dass manche Menschen damals bessere Zähne hatten, als andere. Vielleicht ist aber auch die körpereigene Abwehr dafür verantwortlich.
"Wir konnten im Zahnstein auch viele Eiweiße identifizieren, die bei der Immunabwehr eine Rolle spielen. Und interessanterweise sahen wir beim Vergleich der beiden Gruppen, dass das Immunsystem der Individuen mit den gesünderen Zähnen aktiver war."
Und ihr Körper so besser in der Lage war, schädliche Bakterien abzuwehren. Ob das stimmt, wollen Jesper Olsen und seine Kollegen in weiteren Studien klären. Als erstes haben sich die dänischen Forscher aber ihre berühmtesten Vorfahren vorgenommen: Sie wollen herausfinden, wie es um die Zähne der der Wikinger bestellt war.
"Wir haben uns den Zahnstein von Wikingern aus ganz Nordeuropa angesehen und werten die Daten gerade aus. Es wird also weitere interessante Studien geben, in denen wir Menschen von unterschiedlichen Teilen der Welt miteinander vergleichen können."
Interessant ist aber nicht nur, wie sich die Bakteriengemeinschaften im Mund von Menschen unterscheiden, die an unterschiedlichen Orten gelebt haben. Die Zahnstein-Forscher wollen auch herausfinden, welche Bakterien möglicherweise im Laufe der Evolution aus der Mundflora verschwunden sind.
"Die spannende Frage ist, ob sich die Bakteriengemeinschaften im Vergleich zu früher verändert haben. Weil wir heutzutage eine bessere Mundhygiene haben zum Beispiel. Oder weil wir Antibiotika zur Verfügung haben und diese häufig einnehmen. Sich anzuschauen, wie sich die Vielfalt der Bakterien in der Mundflora im Laufe der Zeit verändert, wird deshalb sehr interessant sein."
Christina Warinner und ihr Team hingegen untersuchen , ob unsere nahesten Verwandten ähnliche Bakterien in ihrem Mund hatten, wie wir.
"Gerade analysieren wir die Bakterien im Zahnstein von Neandertalern. Und bisher sieht es so aus, als hätten wir heutzutage sehr ähnliche Bakteriengemeinschaften in unserem Mund, wie die Neandertaler.
Außerdem vergleichen wir die Mikrobengemeinschaften im Mund von Neandertalern, modernen Menschen, Gorillas und Schimpansen miteinander, um herauszufinden, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten es bei unseren nahesten Verwandten gibt. Auf dieses Projekt freue ich mich sehr, denn ich hoffe, dass wir die Evolution der Bakteriengemeinschaften im Mund dadurch besser verstehen lernen."

Ruß- und Baumwollreste – Zahnstein verrät viel über Lebensweisen

Gleichzeitig verraten die Stoffwechselprodukte und andere Substanzen im Zahnstein aber auch etwas über die Lebensweise eines Menschen. So konnten die Forscher rekonstruieren, dass die Menschen im Mittelalter neben Kuh- auch häufig Schafs- und Ziegenmilch konsumierten. Und der Blick in den Zahnstein hat ihnen auch verraten, womit jemand häufig gearbeitet hat.
"Ein paar Untersuchungen haben gezeigt, dass auch Stoffe aus der Umwelt in den Zahnstein eigebettet werden. Zum Beispiel Ruß, was zeigt, dass sich jemand häufig in der Nähe einer offenen Feuerstelle aufgehalten hat. Es wurden auch schon Spuren von Baumwolle im Zahnstein gefunden, was bedeutet, dass dieser Mensch vielleicht in der Textilherstellung gearbeitet hat. Momentan suchen wir bei Menschen aus dem Mittelalter intensiv nach solchen Hinweisen, die uns etwas über ihre Lebensweise verraten."
So zeigen erste Untersuchungen, dass sich die Menschen im Mittelalter häufig selbst mit Propolis geheilt haben. Propolis ist eine Art natürliches Antibiotikum, das Bienen aus Baumharz, Wachs, Pollen und ätherischen Ölen herstellen.
"Vor ein paar Jahren gab es diese tolle Untersuchung, in der sich Forscher die Zähne von Menschen aus der Steinzeit angesehen haben und bei einem Individuum Spuren von Propolis gefunden haben. Und das Faszinierende ist, dass wir sehr oft Rückstände im Zahnstein entdecken, die haargenau wie Propolis aussehen.
Leider sind die Mengen, die wir finden, aber so winzig, dass wir es bisher mit unseren Messgeräten nicht nachweisen können. Es wäre einfach fantastisch, wenn wir über den Zahnstein nachweisen könnten, dass Menschen früher Propolis als Wundheilmittel im Mund genutzt haben."
Womöglich war Propolis lange die einzige Medizin, mit der Menschen schlimme Zahnschmerzen behandeln konnten. Christina Warinner hofft, dass die Empfindlichkeit der Messgeräte schnell verbessert wird. Denn dann können sie und andere Forscher dem Zahnstein unserer Vorfahren weitere spannende Geheimnisse entlocken.
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