Geheimnisvolle Realität

Von Rainer Zerbst |
Auf Thomas Florschuetz' Fotografien bekommt die Realität fast immer etwas Geheimnisvolles. Er bevorzugt Ausschnitte, die Totale wird man bei ihm nicht finden. Die Kunsthalle Tübingen zeigt jetzt seine Werke unter dem Titel "Imperfekt".
Wenn ein Hobbyfotograf den Blick aus einem Fenster aufnehmen wollte, dann würde er das Fenster öffnen und festhalten, was man da an Außenwelt zu sehen bekommt. Thomas Florschuetz hat unzählige Fensterbilder aufgenommen, aber von der Außenwelt sieht man bei ihm kaum etwas. Er stellt denn auch grundsätzlich infrage, dass ein Blick durch ein Fenster sonderlich viel von der Außenwelt preisgibt:

"Je länger man darüber nachdenkt, desto schwieriger wird es, zu begreifen: Was sieht man überhaupt, was wird gezeigt und was nimmt man davon wahr? Das sind wichtige Fragen, die sich an unser Urteilsvermögen, an unsere Wahrnehmung von Dingen richten. Wir gehen durch die Welt und begreifen eigentlich alles in kleinen Portionen, in kleinen Ausschnitten, immer extrahiert aus einem sehr viel größeren Gefüge von Realität."

So sehen wir bei ihm Spiegelungen. Da spiegelt sich natürlich das, was draußen ist, aber es spiegelt sich in den leicht schräg geöffneten Fenstern auch der Innenraum. Außerdem sind es nicht irgendwelche Fenster, sondern alte Berliner Doppelfenster, die Spiegelungen vervielfachen sich also.

"Die Fenster zeigen eigentlich weder einen klaren Blick nach außen, noch einen klaren Blick nach innen. Die Fenster thematisieren eigentlich das Fenster - das Fenster wird in dem Fall zur Metapher für das Fenster, das jeder in sich trägt, für Wahrnehmung, für Aufnahme."

Florschuetz zeigt auf seinen Fotos nicht die Oberfläche der Realität, er spürt ihren Geheimnissen nach. Und die sind nicht selten erstaunlich grafisch. Den Palast der Republik beispielsweise fotografierte er nicht kurz vor dessen Abriss, sondern als er schon bis auf das Baugerüst skelettiert war.

Wir sehen Stahlträger, Betonwände - aber sie wirken wie Linien und geometrische Flächen. Vor allem aber sehen wir auch hier Ausblicke und Spiegelungen, etwa in einer Pfütze auf dem Boden. Die Realität auf Florschuetz' Fotos bekommt fast immer etwas Geheimnisvolles.

So widmete er sich der Wallfahrtskirche, die Le Corbusier in Ronchamp baute, jenes kühne, geschwungene Bauwerk. Bei Florschuetz scheinen wir in die Bauprinzipien des Gebäudes Einblick zu nehmen: helle geschwungene Säulen vor banalen Betonwänden. In Brasilia hielt er ein futuristisch wirkendes Bauwerk fest: Eine weiße Halbkuppel, die aussieht, als sei gerade ein Raumschiff gelandet. Soweit die Realität.

Florschuetz aber fotografierte sie von einem Gebäude gegenüber, durch eine riesige Fensterfront hindurch, deren Unterteilungen man nun als Linien im Bild sieht, und dazu hin hat er das alles nach einem Regen aufgenommen. Das Gebäude spiegelt sich auf dem Boden noch einmal. Florschuetz stellt dem Blick auf die Welt nicht selten Hindernisse in den Weg.

"Mich interessiert, Ausblicke zu liefern, die nicht ganz eindeutige Ausblicke sind, sondern die meist durch irgendetwas hindurchführen. Vielleicht ist das ein Zweifel an diesem landläufigen Glauben, dass Fotografie das wiedergibt, was man sieht, denn Bilder geben nicht Realität wieder, Bilder geben immer eine Illusion wieder."

Er bevorzugt Ausschnitte, die Totale wird man bei ihm nicht finden, mit gutem Grund.

"Es gibt ja eigentlich keine perfekte Totale, sie ist immer irgendwie begrenzt, auch das, was wir als total sehen, auch ohne Kamera. Deswegen würde man eine Totale vermutlich am besten darstellen, indem man eine andere Ebene dazuliefert, also eine Ebene von Text, vielleicht Musik, vielleicht eine Mehrteiligkeit von Bildern von Bewegungen."

So eine Mehrteiligkeit sieht man in der Ausstellung bei seiner Aufnahme eines antiken Amphitheaters. Fünf Fotos davon sind nebeneinander gehängt, auf den ersten Blick meint man, auf diese Weise eine Totalansicht zu sehen. Aber wenn man genauer hinschaut, dann erkennt man, dass jedes Bild von einem etwas anderen Blickwinkel aus aufgenommen wurde.

"Das ist eigentlich ein Umhergehen, ein sich Bewegen in der Arena. Die einzelnen Segmente verweisen natürlich auch wieder zurück auf die Abschnitte dieser Bewegung. Es geht schon um den Ausschnitt und um die Differenz, um das, was auch zwischen dem Ausschnitt sich bewegt."

So meint man bei dem Durchgang durch diese Ausstellung, das landläufige Urteil über Fotografie bestätigt zu sehen - dass sie eben Realität abbilde - und muss dann erkennen, dass sie das nur bedingt kann, höchst unvollkommen, imperfekt, wie die Ausstellung heißt - ein Titel, den Florschuetz allerdings im sprachlich grammatischen Sinn versteht:

"Imperfekt hat mich interessiert als Titel, weil ich denke, dass 'imperfekt' ein ganz guter Begriff für meine Form zu fotografieren ist.

Imperfekt aber vielleicht in erster Linie als grammatikalische Zeitform begriffen - die unvollendete Vergangenheit, dieses Weiterarbeiten. Wenn man Susan Sontag zitiert, die sagte, eine Fotografie wäre immer irgendwie so etwas wie ein Memento mori. Dann ist es aber gleichzeitig auch das, was weiterarbeitet in einem."

Zum Thema: Homepage der Kunsthalle Tübingen