Geheimnisvoller Mord an einem Ex-Agenten

Rezensiert von Michael Stürmer |
Berühmt wurde Alexander Litwinenko erst durch seinen Tod. Der ehemalige russische Geheimdienstler starb an den Folgen einer Vergiftung durch Polonium 210. Marina Litwinenko und Alex Goldfarb beschreiben in "Tod eines Dissidenten" Litwinenkos Werdegang und zeichnen ein Bild Russlands zwischen Jelzin und Putin.
Manche werden berühmt durch ihr Leben, andere durch ihr Sterben. Zu den letzteren gehört Alexander Litwinenko, russischer Geheimdienstmann und dann Dissident in London. Anfang November 2006 wurde ihm eine Dosis Polonium in den Tee geschüttet, und drei Wochen später starb er an den Strahlen, qualvoll und öffentlich. Es sollte der perfekte Mord sein, kein Messer, kein Revolver, kein Blut, kein Täter, keine Spuren – stattdessen wurde daraus ein Fall, der bis heute die Welt rätseln lässt, wer dahinter stand.

Polonium 210 ist nicht ein Stoff, den man in der Drogerie nebenan kauft. Nur hoch entwickelte Labors und ihre Spezialisten wissen damit umzugehen. Auffallend deshalb der Widerspruch zwischen dem Mordmittel und dem unbekannten Mörder: Das raffinierte Gift und die dilettantische Weise, wie die Täter die strahlenden Spuren auf ihrem Weg verteilten.

Inzwischen hat der britische Generalstaatsanwalt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet gegen einen gewissen Andrej Lugovoj, von dem man wenig weiß, außer dass er heute als Geschäftsmann auftritt, drei Wochen vor dessen elendem Ende mit Litwinenko zusammen war, dass er Strahlen streute in Flugzeug und Hotel, und dass er dem alten Sowjet-KGB angehörte, der heute als FSB firmiert, Föderativer Geheimdienst für In- und Ausland, für trockene und für nasse Operationen. Lugovoj gab dieser Tage in Moskau eine Pressekonferenz, wo er alles abstritt und die Briten beschuldigte, Litwinenko als Agenten rekrutiert zu haben.

Kein Wunder, dass das Buch von Marina Litwinenko und Alex Goldfarb Interesse weckt, in 16 Ländern zugleich erscheint in diesen Tagen und die Blicke noch einmal nach Moskau lenkt, in das Hochhaus des Geheimdienstes und auf den Kreml. Im Vorwort schreibt Alex Goldfarb über die Zusammenarbeit mit der Witwe Marina Litwinenko:

"Dies ist eine sehr persönliche Erzählung über Leben und Tod eines einzigen Mannes. Gleichzeitig ist es die Geschichte weitreichender geschichtlicher Ereignisse und ein Buch über Taten und Verbrechen der Mächtigen dieser Welt. Die persönliche Seite dieser Geschichte erlebte ich selbst. Die historisch bedeutsame schrieb ich in dem Vertrauen, dass ich neben meinen eigenen Schlussfolgerungen und Überzeugungen auch die von Sascha Litwinenko zum Ausdruck bringe. Ich bin sicher kein neutraler, objektiver Beobachter. Aber ich halte mich an die Wahrheit, und mit Marinas Hilfe gelingt es mir wohl am besten, Sascha eine Stimme zu verleihen."

Soweit Alex Goldfarb, der als Co-Autor und Erzähler auftritt, Freund der Litwinenkos, jüdischer Biologe, ex-sowjetischer Dissident und seit langem amerikanischer Staatsbürger. Er gibt sehr viele Gespräche wörtlich wieder in Rede und Gegenrede. Das ist immer eine gewagte Sache. Wer erinnert sich schon noch nach Jahren, was wer zu wem mit welcher Betonung gesagt hat? Ja, es könnte so gewesen sein – vielleicht aber auch anders.
Goldfarb sieht diese Schwäche und kommentiert sich selbst:

"Alle Ausschnitte aus Gesprächen basieren auf meinen eigenen Erinnerungen und denen der jeweiligen Gesprächsteilnehmer."

Das ist in der Tendenz vielleicht richtig, aber Wladimir Putin, Russlands Präsident, hat nicht für Interviews zur Verfügung gestanden, und andere wichtige Figuren auch nicht. Putin aber wird in diesem Buch als die große Figur im Hintergrund dargestellt, ob zu Recht oder zu Unrecht, bleibt bis zuletzt offen. Wäre der Kreml im mörderischen Spiel gewesen, dann enthielte diese Dissidenten- und Geheimdienstgeschichte Hinweise auf den Weg Russlands in Gegenwart und Zukunft. Gerade diese zentrale Frage aber bleibt auch nach mehr als 400 Seiten ungeklärt – und vielleicht unerklärbar.

Sicher ist indes, dass die Witwe und der Freund des toten Litwinenko eine sehr interessante, dramatische Geschichte zu erzählen haben, dass Litwinenko zuerst KGB-Mann war und dann gegen die "Firma" öffentlich auftrat, dass er verhaftet wurde und mit Hilfe alter Freunde ins Exil entwich, dass er unter dem Schutz des im Westen lebenden Oligarchen Beresowski stand, dass der FSB Abtrünnigen nicht vergibt, und dass Litwinenko eines grausigen Todes starb. Sicher ist allerdings auch, dass Moskau bisher zur Aufklärung des Falles nichts Wesentliches beigetragen hat, und dass dies entweder sehr unklug ist – oder sehr klug, je nachdem, ob es etwas zu verbergen gibt oder nicht.
Dies ist ein Thriller, wenn es je einen gab – und mehr als das. Denn es handelt sich nicht um Fiktion, sondern um Fakten – jedenfalls meistenteils, und selbst die kleinen Hinweise sind aufschlussreich und klingen authentisch, ob es um die Arbeitsmethoden von Geheimdiensten geht oder um die Einrichtung von Putins Arbeitszimmer. Der Freund und Chronist hält fest, was ihn erstaunte:

"Sascha hatte ein phänomenales Gedächtnis. Er konnte sich an unzählige Ereignisse, Adressen, Telefonnummern und Namen erinnern. Zusammen ergaben sie ein erschreckendes Bild: Eine Welle des Verbrechens überrollte langsam die Behörden, die im neuen Russland für Recht und Ordnung sorgen sollten."

Die Geschichte beginnt, als Litwinenko 1995 aus Russland flieht zusammen mit Frau und sechsjährigem Sohn, und Alex Goldfarb versucht, für die drei Asyl zu finden. Bei den Amerikanern missglückt das, weil sie keinen Ärger wollen mit dem FSB. Die Briten dagegen nehmen die drei Flüchtlinge auf: Litwinenko, Marina und den sechsjährigen Sohn. Sie mussten sich die Frage stellen, die sich auch der Leser stellt: Wer war Alexander Litwinenko?

Der junge Mann wuchs ohne Eltern auf, ging ins Militär als patriotische Pflichterfüllung und nahm das Angebot an, im KGB Karriere zu machen. Dort war er mit normaler Verbrechensbekämpfung befasst. Marina Litwinenko erinnert sich, was ihren Mann von den Kollegen unterschied:

"Drei Gründe: 1. Er trank nicht. Sie hingegen konnten sich nur mit Alkohol entspannen. 2. hatten sie ein anderes Verhältnis zu Geld. Sascha konnte überhaupt nicht mit Geld umgehen. Wir hatten immer genug, aber wir lebten nicht im Luxus … 3. hatte er Hemmungen, die Macht einzusetzen, die von dem FSB-Ausweis ausgeht."

Schicksalhaft war die Begegnung mit Beresowski, dem Oligarchen, der 1996 Jelzins entscheidenden Wahlkampf finanzierte. Litwinenko vinenko gehörte zur Terrorbekämpfung. Es war ein Anschlag auf Beresowski verübt werden, der knapp entkam. So begegneten die beiden einander. Beresowski war mittlerweile zum Fernsehzar geworden und brauchte Schutz gegen Auftragsmorde. Litwinenko studierte unterdessen die Verbindung zwischen organisierter Kriminalität, Polizei, Geheimdienst und Politik. Aber seine obersten Vorgesetzten zeigten sich merkbar uninteressiert. Litwinenko:

"Mich überraschte es nicht, als sich alle plötzlich Landhäuser und Mercedes-Limousinen zulegten, obwohl sie lausig bezahlt wurden. Das ganze System war verfault bis ins Mark … Die Polizei und der FSB lernten schnell dazu und drängten die Banden aus dem Geschäft. Oft wurde aus Konkurrenz eine Art Kooperation, und bald wurden die Agenten selbst zu Verbrechern". "

Was hier wie nebenbei entsteht, ist eine Skizze der Sitten und Gebräuche, die heute in Moskau und Umgebung gelten, der politischen Umgangsformen und des Spiels um Leben und Tod. Beispielsweise wie ein Oligarch aus der Datscha vor den Toren Moskaus zu seinem Büro gelangt:

" "An der Spitze fuhr ein schneller Wagen mit Sicherheitsleuten, die beide Seiten der Straße beobachteten. Danach kam Gussinskis gepanzerter Mercedes, dem wiederum ein Geländewagen folgte, der Schlangenlinien fuhr und so sicherstellte, dass niemand versuchte, die Kavakade zu überholen. Die Nachhut bildete ein fensterloser Kleinlaster, in dem sich ein Team ehemaliger Fallschirmjäger unter dem Kommando eines kahlköpfigen Mannes namens Zyklop befand."

Es ist eine unheimliche, rechtlose Welt, die hier geschildert wird. Es war das Russland der 90er Jahre, der erste Tschetschenien-Krieg nahm seinen verzweifelten und sieglosen Verlauf. Major Litwinenko wurde in einen Einsatz geschickt, der im Chaos endete. Er überlebte mit knapper Not. Aber er begriff eines:

"Dies war der Freiheitskampf eines Volkes."

Im großen Russland bekam unterdessen die Masse der Bevölkerung weder Löhne noch Rente, in den Läden gab es wenig oder nichts zu kaufen, die Privatisierung machte wenige reich und alle neidisch. Jelzins Popularität sank nahe an Null. Im Kampf mit den Kommunisten indes, der schon zu drei Vierteln verloren war, retteten die Oligarchen Jelzin und sich selbst. Aber es tat sich eine Kluft auf zwischen den Oligarchen und den Diensten, und Litwinenko wusste nicht, auf welcher Seite er stand. Schließlich war es Beresowski, für den er sich entschied, und gegen die Dienste, aus denen er kam. Das hat er nicht lange überlebt.

Warum Alexander Litwinenko sterben musste – …so lautet der Untertitel des Buches. Die Antwort heißt: Er wusste zu viel über die Dämonen des neuen Russland. Geblieben ist dieses Buch. Es ist faszinierend, enthüllend, beängstigend. Und es ist beides, persönliche Chronik und impressionistisches Bild Russlands zwischen Jelzin und Putin. Wie verlässlich aber? Eine wissenschaftliche Anatomie des heutigen Russlands ist es nicht, wohl aber ein Buch voll eindrucksvoller, sprechender Geschichten. Die Stärke liegt in diesen vielen Einzelheiten, einige davon aussagestark und symptomatisch, aber merkbar nicht in der großen, zusammenhängenden Analyse Russlands gestern, heute und morgen. Die handelnden Figuren sind immer auch die getriebenen. Es ist schon so, wie ein westlicher Geheimdienstchef, als 1990 alles zu zerfallen begann, einmal sagte: Ach was, Einzelheiten: Lesen Sie Dostojewski, da steht schon alles.

Marina Litwinenko & Alex Goldfarb: Tod eines Dissidenten - Warum Alexander Litwinenko sterben musste
Aus dem Englischen von Violeta Topalova
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007
Alex Goldfarb, Marina Litwinenko: "Tod eines Dissidenten"
Alex Goldfarb, Marina Litwinenko: "Tod eines Dissidenten"© Hoffmann und Campe