Geheimnisvolles Indien
In seinem Reportageband "Neun Leben - Unterwegs ins Herz Indiens" porträtiert der Autor William Dalrymple neun eindrucksvolle Charaktere. Hinter den Geschichten kommt das spirituelle Indien zum Vorschein, das Touristen häufig verborgen bleibt.
In einem Interview hat William Dalrymple vor kurzem von den hässlichen neuen Bauten und vom Ende des Wachstums in Indiens Hauptstadt gesprochen, alleine das Wasser reiche nicht mehr lange aus, um den vielen Menschen eine Existenz möglich zu machen. Der schottische Autor, der seit seiner ersten Rucksackreise vor fast drei Jahrzehnten von Indien gebannt ist, lebt inzwischen auf einer Farm am Rande Neu Dehlis; 2009 begründete er ein wichtiges Literaturfestival in Jaipur. Er selber gilt als einer der besten Reiseschriftsteller. "Neun Leben" ist ein Bestseller in Indien.
In diesem ungewöhnlichen Reportageband geht es jedoch nicht um das moderne Indien, nicht um Bevölkerungswachstum, Wirtschaftsaufschwung oder Tourismuszahlen. Dalrymple eröffnet dem Leser vielmehr Einblicke in das spirituelle Indien. Neun Porträts, eben "Neun Leben" entwirft der kluge Autor, der damit tatsächlich das "Herz Indiens" zum Schlagen bringt.
Eine der Geschichten erzählt von einem Epensänger. Im gewöhnlichen Leben ist er Gefängniswärter und Brunnenbauer, vor allem aber gehört er zur niedrigsten Kaste Indiens, zu den Unberührbaren, die auch heute noch von vielen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen sind, mit denen viele Menschen nichts zu tun haben, die sie nicht anfassen wollen. Ein paar Monate im Jahr ist dieser Mann jedoch ein hoch angesehener, ein bewunderter und angebeteter Sänger, der in rituellen Veranstaltungen nicht nur ein 4000 Strophen langes Epos vorträgt, vor allem ist er in diesem religiösen Ritual tatsächlich ein anderer. Der jeweilige Gott dringt in ihn ein, nimmt Besitz von ihm. In und mit seiner Gestalt erscheint er den Menschen, die nach den Vorstellungen mit Bitten und Gebeten zu ihm kommen.
Mit diesem Epensänger, der eine lange Familientradition fortführt, reist der Autor durch "weißes, ausgedörrtes Land, vorbei an stachligen Akazien und windzerzausten Kameldorn". Irgendwann kommen sie an einem heiligen Ort vorbei, der einst dem Schlangengott Gogaji gewidmet war. Jahrhundertelang hatte niemand gewagt, diesen Ort anzutasten, aber nun haben Holzdiebe die Bäume gefällt. Auf die Frage nach anderen heiligen Hainen erzählt der Mann, wie es Anhängern einer strikt gewaltfreien religiösen Gemeinschaft, den Bishnoi, einmal gelungen sei, ihre Bäume gegen das Abholzen zu schützen. Auf die Frage des Autors, wann das denn gewesen sei, "antwortete Mohan schulterzuckend: Ach, nicht so lange her. Vor ungefähr 320 Jahren."
Es ist jedoch nicht nur ein anderes Zeitgefühl, vor allem ist es eine grundsätzlich andere Haltung zur Spiritualität, zur Absolutheit des Glaubens, von denen Dalrymple berichtet. Mit großem Respekt begegnet der Autor seinen Protagonisten, er lässt sie zu Wort kommen, er wertet nicht, er richtet all seine Aufmerksamkeit auf diese Lebensgeschichten, die nicht nur jedem Indien-Touristen Pflichtlektüre sein sollten. Auch wenn man den Subkontinent nicht besuchen will, mit diesem Buch kann man eine aufregende und erhellende Reise im Kopf unternehmen.
Besprochen von Manuela Reichart
William Dalrymple: Neun Leben - Unterwegs ins Herz Indiens
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
Berlin Verlag, Berlin 2011
334 Seiten, 24 Euro
In diesem ungewöhnlichen Reportageband geht es jedoch nicht um das moderne Indien, nicht um Bevölkerungswachstum, Wirtschaftsaufschwung oder Tourismuszahlen. Dalrymple eröffnet dem Leser vielmehr Einblicke in das spirituelle Indien. Neun Porträts, eben "Neun Leben" entwirft der kluge Autor, der damit tatsächlich das "Herz Indiens" zum Schlagen bringt.
Eine der Geschichten erzählt von einem Epensänger. Im gewöhnlichen Leben ist er Gefängniswärter und Brunnenbauer, vor allem aber gehört er zur niedrigsten Kaste Indiens, zu den Unberührbaren, die auch heute noch von vielen gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen sind, mit denen viele Menschen nichts zu tun haben, die sie nicht anfassen wollen. Ein paar Monate im Jahr ist dieser Mann jedoch ein hoch angesehener, ein bewunderter und angebeteter Sänger, der in rituellen Veranstaltungen nicht nur ein 4000 Strophen langes Epos vorträgt, vor allem ist er in diesem religiösen Ritual tatsächlich ein anderer. Der jeweilige Gott dringt in ihn ein, nimmt Besitz von ihm. In und mit seiner Gestalt erscheint er den Menschen, die nach den Vorstellungen mit Bitten und Gebeten zu ihm kommen.
Mit diesem Epensänger, der eine lange Familientradition fortführt, reist der Autor durch "weißes, ausgedörrtes Land, vorbei an stachligen Akazien und windzerzausten Kameldorn". Irgendwann kommen sie an einem heiligen Ort vorbei, der einst dem Schlangengott Gogaji gewidmet war. Jahrhundertelang hatte niemand gewagt, diesen Ort anzutasten, aber nun haben Holzdiebe die Bäume gefällt. Auf die Frage nach anderen heiligen Hainen erzählt der Mann, wie es Anhängern einer strikt gewaltfreien religiösen Gemeinschaft, den Bishnoi, einmal gelungen sei, ihre Bäume gegen das Abholzen zu schützen. Auf die Frage des Autors, wann das denn gewesen sei, "antwortete Mohan schulterzuckend: Ach, nicht so lange her. Vor ungefähr 320 Jahren."
Es ist jedoch nicht nur ein anderes Zeitgefühl, vor allem ist es eine grundsätzlich andere Haltung zur Spiritualität, zur Absolutheit des Glaubens, von denen Dalrymple berichtet. Mit großem Respekt begegnet der Autor seinen Protagonisten, er lässt sie zu Wort kommen, er wertet nicht, er richtet all seine Aufmerksamkeit auf diese Lebensgeschichten, die nicht nur jedem Indien-Touristen Pflichtlektüre sein sollten. Auch wenn man den Subkontinent nicht besuchen will, mit diesem Buch kann man eine aufregende und erhellende Reise im Kopf unternehmen.
Besprochen von Manuela Reichart
William Dalrymple: Neun Leben - Unterwegs ins Herz Indiens
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
Berlin Verlag, Berlin 2011
334 Seiten, 24 Euro