Gehetzte Gesellschaft

Von Andreas Rinke · 03.01.2012
Das Leben wird immer schneller, Informationen und Kapital fließen in Sekunden um den Globus. Doch dabei geht auch eine Menge verloren: Das schnelle Tempo entwertet die Bedeutung des Moments, findet Andreas Rinke. Und birgt doch Chancen.
Mit der "Entdeckung der Langsamkeit" hat Sten Nadolny ein großartiges Buch geschrieben. Die Geschichte des Polarforschers John Franklin hatte vor allem deshalb so großen Erfolg, weil viele Leser in ihrem eigenen Leben die gegenteilige Erfahrung machen. Das Leben beschleunigt sich immer mehr.

Heute bewegen wir uns um ein Vielfaches schneller als Menschen vor 100 Jahren. Informationen und Kapital fließen innerhalb von Sekunden und ständig um den ganzen Globus. Die Beschleunigung erfasst vom Fast-Food-Essen, der Dauernutzung von Smartphones über Sport und Sex bis zum Umgang mit Geld alle Lebensbereiche. Das iPad von Apple wird schon deshalb zum Erfolg, weil es die Zeit für das lästige Hochfahren eines Computers sparen hilft.

Seit Monaten spüren aber nicht nur Individuen, sondern ganze Gesellschaften die Beschleunigung. Die rasende Geschwindigkeit von Finanzgeschäften erfasst in der Schuldenkrise die Politik - und die Medien. Die Halbwertzeit von Krisenbewältigungsentscheidungen und Leitartikelmeinungen ist dramatisch gesunken. Kaum sind Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Kollegen von einem hektischen Krisengipfel zurückgekehrt, müssen sie bereits den nächsten vorbereiten. Ein US-Notenbankchef oder eine Bundeskanzlerin bewegen mit ihren Äußerungen innerhalb von Millisekunden Milliarden rund um den Globus. Politik findet in einer atemlosen Echtzeit statt, nicht mehr im früheren gemächlichen Aufregungsrhythmus politischer Wochenmagazine.

Die Folge: Viele Menschen fühlen sich wie Passanten am Straßenrand. Bewegen sich einzelne vorbeifahrende Autos langsam, können sie diese noch gut erkennen. Rasen die Autos aber in großer Zahl und hoher Geschwindigkeit vorbei, registriert der Beobachter nur noch eine verschwommene Masse. Das Tempo entwertet die Bedeutung des Moments.

Kein Wunder, dass der Frust wächst und sich Protest regt. "Slow food" ist die Antwort auf den Siegeszug der Fast-Food-Ketten und den Happen "zwischendurch". Und ein Kunstmuseum hat der "Entschleunigung" gerade eine eigene große Ausstellung gewidmet - ironischerweise ausgerechnet in Wolfsburg, jener Stadt, an der ICEs bereits mehrfach ohne den vorgesehenen Halt vorbeigerast sind. Besser kann man die Vergeblichkeit nicht demonstrieren, das Leben wieder anhalten oder zumindest verlangsamen zu wollen. Die Rückbesinnung auf den Wert von Zeit und Langsamkeit ist sympathisch und wichtig. Aber sie gleicht dem Weberaufstand gegen den unaufhaltsamen Siegeszug der industriellen Webmaschinen im 19. Jahrhundert - sie ist vergeblich.

Die gute Nachricht: Privatpersonen können lernen, sich Zeitnischen in einer rasanten Zeit zu suchen und die Nutzung der neuen High-Speed-Medien zu dosieren. Der empfangsfreie Urlaub im Kloster korrigiert das Zeitgefühl für einen Moment. Neue Arbeit-Freizeit-Modelle und ein intensives Familienleben erlauben Tempowechsel.

Die schlechte Nachricht: Weder Politik noch Wirtschaft werden sich der wachsenden Geschwindigkeit entziehen können. Ihre Akteure müssen ein Leben im "Fast"-Modus trainieren, um überleben zu können - trotz des schönen Bonmots von Julius Grützke und Thomas Platt, dass "demokratische Entscheidungen Zeit brauchen wie Schmorgerichte".

Denn längst geht die Beschleunigung in die nächste Phase: Die USA haben gerade ein Hypersonic-Geschoss getestet, das mit seinen 7000 Stundenkilometern die Kriegsführung, vielleicht aber auch unser Reisen dramatisch verändern wird. An den Finanzmärkten beginnen Supercomputer ihren Siegeszug, die vollautomatisiert in Millisekunden weitreichende Entscheidungen für ganze Volkswirtschaften treffen. Darauf muss die Politik reagieren.

Wer sich der Beschleunigung entzieht, überlässt die Entscheidungen über die Zukunft anderen. Entschleunigung bedeutet politische Selbstaufgabe. In der Schuldenkrise hechelt die Politik schon heute der Entwicklung an den schnelleren Finanzmärkten hinterher. Tempo an sich muss übrigens nicht schlecht sein: Es ist ohnehin eine Mär, dass jahrelange politische Debatten dazu führen, am Ende bessere Entscheidungen zu treffen. Zu viele Köche verderben am Ende nicht nur den Brei, sondern auch den Schmorbraten.

Andreas Rinke, Jahrgang 1961, ist ausgebildeter Historiker und hat über das Schicksal der französischen "Displaced Persons" im Zweiten Weltkrieg promoviert. Er hat als politischer Beobachter bei der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" und dem "Handelsblatt" gearbeitet. Schwerpunkte seiner Arbeit sind unter anderem die internationale und europäische Politik. Heute lebt er als Journalist in Berlin.
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