Gehört uns unser Leben noch?

Von Michael Laages |
Obwohl die Dramatikerin Dea Loher zu den erfolgreichsten der jüngeren Generation zählt, haben sich die großen Berliner Theater praktisch nie wirklich um sie bemüht – zu eng ist ihre in eineinhalb Jahrzehnten gewachsene Bindung an den Regisseur Andreas Kriegenburg, die in Hannover begann und weiter nach Hamburg führte.
Nun ist aber das Hamburger Thalia-Team bekanntlich am Deutschen Theater in Berlin angekommen in dieser Spielzeit – und damit gab es (nachdem die Autorin im Vorjahr schon den Berliner Literaturpreis erhalten hatte) gestern auch die erste Uraufführung eines neuen Stückes von Dea Loher in Berlin: "Diebe” heißt es. Wer aber stiehlt darin wem was?

Einfach so nacherzählen lassen sich Dea Lohers Stücke ja schon seit geraumer Zeit nicht mehr – es sind Tausend-Teile-Puzzles, oder besser noch: Mikado-Spiele. Wie da die Stäbchen zufällig fallen, so geraten sie miteinander in Verbindung; und nur sehr vage zwingt auch die Dramatikerin die einzelnen Teile des szenischen Flickenteppichs zueinander. Mit dieser virtuos ausgefeilten Methode ist Dea Loher zur bedeutendsten Geschichtenerzählerin des aktuellen Theaters in Deutschland geworden – und oft schwelt unter den vermeintlichen Zufälligkeiten dieser Stücke darüber hinaus ein beunruhigender Grundton: voller Trauer, Schmerz und Verzweiflung. So war es bei "Unschuld”, Lohers mit Abstand erfolgreichstem Stück, das tatsächlich in die Spielpläne vieler Bühne gelangte (heute hat gerade eine "Unschuld”-Fassung in Kassel Premiere!), so war es bei "Das Leben auf der Praca Roosevelt” und zuletzt bei "Das letzte Feuer” - so ist es aber nicht beim jüngsten Stück.

Diesen ans Herz und unter die Haut gehenden Grundton hat "Diebe” nicht; erklärtermaßen soll das Stück ohne ein Motto auskommen, wie es in früheren Stücken eben "Schuld" war oder "Schmerz". Nur der Titel hilft ein bisschen: Schlichen nicht viele von uns - so fragt rhetorisch eine der Figuren ganz am Rand des Stückes - wie "Diebe" durch das eigene Leben, so, als würde es uns überhaupt nicht gehören? In diesem Grundgefühl, bestenfalls, bewegt sich das "Diebe”-Personal durch Lohers Szenen – die alte Dame, die 43 Jahre lang im Hotelzimmer auf den Gatten wartete, der auf der Hochzeitsreise nur mal eben einen Spaziergang machen wollte und nicht wieder kam; die Verkäuferin im Supermarkt, die (sehr naiv, und schließlich vergeblich) auf eine kleine Karriere hofft, darum Niederländisch lernt und dabei den Gatten verliert - einen Polizisten, der zuvor die alte Frau mit den 43 Jahren Wartezeit verhört; ein skurriles Spießbürgerpaar, Familie Schmidt, das von einem sonderbaren Schrat (und Bestattungsunternehmer namens "Erbarmen”!) verfolgt wird, weil er weiß, dass der Herr Schmidt in jungen Jahren mal Samenspender war und darum noch (mindestens) eine zweite Familie hat, von der er nichts weiß (und nichts wissen will); eine schöne, noch junge Frau, die Angst um ihren Arbeitsplatz in der Wellness-Therme hat und eines Tages einem Wolf begegnet, ihren topfitten Papa ins Seniorenheim entsorgte und den ganzen ersten Teil des Stückes über ihren Bruder verliert, der eines Tages in tiefster Depression beschloss, morgens einfach liegen zu bleiben, dann sein Zimmer nicht mehr zu verlassen, später seine letzten Münzen einfach aufzuessen, schließlich aus dem Fenster zu springen.

Klingt überwiegend finster, ist es aber nicht - "Diebe" ist Lohers heiterstes Stück bisher, die kleine szenische Form ermöglicht Miniaturen von nachgerade kabarettistisch pointierter Zuspitzung; etwa ein weiteres Polizeiverhör, in dem die eher schlicht, aber pfiffig gestrickte Gabi von einem Mordversuch berichtet, den ihr ähnlich wunderlicher Lover an ihr begangen haben soll. Da dem Stück aber bewusst kein Grund-Sound eingeschrieben ist, beginnt sich mit der Zeit die offene Struktur des lose miteinander verbundenen Materials gegen die Wirkung des Stückes selber zu wenden – immer neue Zufallskonstellationen fügt Loher hinzu, gegen Ende vor allem und nicht zum Besten der eigenen Sprache, die wie immer aus echtem szenischen Ton und distanziertem Text-Bericht der Figuren über sich selbst gemischt ist. Zum Ende hin verliert der Text auch deutlich an poetischer Kraft, und die (mit Pause) fast vier Stunden werden lang und länger.

Andreas Kriegenburg, wie immer Lohers Uraufführungsregisseur, hat dem Text-Gefüge ein starkes und natürlich auch stark dominierendes Bild verpasst: Quer in die Bühne ist ein haushohes Schaufelrad gebaut, das die Figuren mal von oben, mal von unten in die Szene hinein und sie auch wieder aus ihr heraus spült – eine extreme Herausforderung nicht nur für die Maschinisten und Techniker des Theaters, sondern auch für Gleichgewichtssinn und Höhen-Gefühl des durchweg prächtigen Ensembles. Ein wenig schlicht in der Wirkung erklingt zu den Bewegungen dieses Schaufelrades gemütlich-entspannter Swing-Jazz von Dinah Washington bis Frank Sinatra; im zweiten Teil, wenn's etwas ernster wird, kommt "minimal music" von Steve Reich hinzu. Auch das wirkt nicht wirklich zwingend, und das Unbehagen über die leicht beliebig additive Machart des Abends wächst mit.

Aber sei's drum: Sie hatten schon so viele große und glückliche Bühnen-Abende miteinander, die Autorin Dea Loher und ihr großer Interpret Andreas Kriegenburg – da darf wohl auch mal ein eher mittelmäßiger dabei sein.