Wie Kunst als Kunst definiert wird
Kunst als autonome Sphäre und Denkrichtung: Das gibt es erst seit dem 18. Jahrhundert, sagt der Philosoph Jacques Rancière. Vorher musste Kunst bestimmte Zwecke erfüllen.
Stephan Karkowsky: Der französische Star-Philosoph Jacques Rancière kommt ursprünglich aus dem Marxismus, er kritisiert diesen aber auch mit Fragen wie: Gibt es die Arbeiterklasse überhaupt? Er widerspricht gern allzu etablierten Denkweisen mit radikalen Gegenpositionen, auch in seinem neuen Buch. Darin beschreibt er Kunst als Erfahrungsraum, in dem das Kunstwerk selbst nur ein Teil ist. Rancière benutzt dafür 14 Szenen, kleine, oft klassische Texte über Kunst, und anhand derer dekliniert er dann verschiedene Kunstformen durch.
Und darüber wollen wir nun mit ihm selbst sprechen. Jacques Rancière: Schön, dass Sie bei uns sind, guten Tag!
Jacques Rancière: Bonjour!
Karkowsky: Sie entwickeln in "Aisthesis" eine Gegengeschichte der künstlerischen Moderne. Was muss denn an der bislang geltenden Geschichte korrigiert werden?
Rancière: Also, ich glaube, man muss überhaupt über das Konzept der Modernität in der Kunst noch einmal neu nachdenken. All das, was in den 1940er-Jahren auch mit der Frankfurter Schule beispielsweise entstanden ist, die Art, wie man Kunstgeschichte aufgefasst hat, Leute wie Greenberg, die eben immer von einer Art Unterbrechung auch geredet haben, dann Leute wie Schönberg und Malewitsch, die meinten, man könnte gewisse Kunstformen miteinander verbinden – all das muss neu überdacht werden, und es muss eine neue Form des Denkens eingeführt werden.
Das betrifft auch die Institutionen, auch soziale Institutionen, weil dieser Kunstbegriff, den wir jetzt haben, und der Anfang des 20. Jahrhunderts radikal neu gedacht worden ist, fiese Art, überhaupt uns mit Kunst auseinanderzusetzen als Begriff und auch als Erfahrung, das gibt es ja letztendlich erst seit dem 18. Jahrhundert. Und da bin ich der Meinung, müssen wir letztendlich unseren ganzen modernen Kunstbegriff irgendwo neu überdenken.
Karkowsky: Und Sie entwickeln dieses neue Denken anhand von 14 Szenen, 14 kleine Texte. In diesen Szenen geht es oberflächlich betrachtet um perfekte Repräsentanten einzelner Kunstformen, also Charlie Chaplin steht für den Schauspieler, Rodin für den Bildhauer, der klassische Dokumentarfilm "Ein Sechstel der Erde" für das Kino. Im Vorwort nennen Sie diese Themen "besondere Ereignisse". Was war denn daran das Besondere?
Rancière: Was ich damit ausdrücken wollte, war nicht, dass ein gewisser Künstler eine gewisse Kunstform repräsentiert, sondern mir ging es eigentlich darum, die Dinge in die Kunst wieder zu rücken, die ursprünglich gar nicht zur Kunst gehört haben oder als eine so Art minderwertige Kunst galten wie zum Beispiel die Fotografie oder das Entstehen des Kinos, aber eben auch einfach nur populäre Unterhaltung, beispielsweise in den Music Halls.
Und diese einmaligen Ereignisse, die es damals gab, also diese speziellen Momente, die letztendlich dazu geführt haben, dass man die Definition von Kunst neu geschrieben hat, darum geht es mir. Da gab es beispielsweise die amerikanische Tänzerin Louise Faller, die in Paris getanzt hat, in einer Music Hall, und Stéphane Mallarmé, ein Dichter, der angeblich die Dichtkunst neu erfunden hat und auch die Autonomie der Dichtkunst, er hat sie gesehen und schreibt einen begeisterten Text, in dem er eben sagt, dass diese Schauspielkunst eine ganz neue Form der Poesie darstellt.
Also mir ging es praktisch um diese Momente, wo etwas zu Kunst geworden ist, was man eigentlich im klassischen Sinne nicht als Kunst bezeichnet hat, und damit will ich eben auch beweisen, wie sich der Kunstbegriff auch ständig neu definiert.
Karkowsky: Sie sagen darin, Kunst existiert erst durch die Rahmenbedingen, die Aufführungsorte, sogar die Empfindungsregime, durch diesen Erfahrungsmodus namens "Aisthesis". Es ist schwer vorstellbar, dass die alten Ägypter etwa ihre Pyramiden nicht als Baukunst wahrgenommen haben oder dass zu Lebzeiten Michelangelos oder Botticellis sie niemand als Künstler wahrgenommen haben soll. War das so?
Rancière: Also alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass Jahrhunderte lang, wahrscheinlich Jahrtausende lang ... Natürlich gab es gewisse klassische Künste wie die Skulptur, die Malerei oder die Musik, und sicherlich war sich Michelangelo auch in einer gewissen Weise seines eigenen Wertes bewusst. Aber dennoch hatte die Kunst noch nicht dieses Allgemeingültige, was sie heute hat, sondern damals hatte die Kunst auch einfach einen Zweck zu erfüllen, sie musste zum Beispiel glorifizieren, sie musste zum Beispiel Prinzen darstellen oder Städte glorifizieren, oder eine soziale Funktion ausführen, oder aber die Ideologie illustrieren und auch wiederum feiern.
Und auch wenn Michelangelo vielleicht einer der ersten ist, wo auch der Künstlerbegriff eine gewisse Bedeutung hat und auch in den Mittelpunkt gestellt worden ist in einem Sinne von Plutarch, würde ich trotzdem dabei bleiben, dass eigentlich erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts wirklich der Begriff der Kunstgeschichte zu einem wirklichen Begriff geworden ist, wo Kunst mehr war, als einfach nur schöne Dinge abzubilden. Und das sind eben Erfahrungen, die wir danach speziell eben gemacht haben. Da ging es einfach um mehr, als nur etwas zu machen, abzubilden, darzustellen.
Karkowsky: Und Sie machen das Eindringen dieses neuen Kunstbegriffes in unsere Welt fest an einem Ereignis, nämlich an der Beschreibung von Winckelmann, dem Begründer der Kunstgeschichte, der über den Herkulestorso im Belvedere redet. Was war daran das Besondere, also Ende des 18. Jahrhunderts?
Rancière: Was Winckelmann da gemacht hat Mitte des 18. Jahrhunderts, wie er zum ersten Mal eine Art von Kunstgeschichte der Antike geschrieben hat, war, dass er weit darüber hinausging, Kunst nur anhand gewisser einmaliger Künstler darzustellen, sondern als Beispiel analysiert er diesen Torso von Herakles, einem Halbgott, eine Statue, die in Rom steht, aber gar keinen Kopf, keine Arme und keine Beine mehr hat, was natürlich paradoxal ist, weil wir reden hier von Kunst, aber von einer unvollendeten Kunst, von einer Ruine.
Und für Winckelmann ist das eben ein ganz anderer Held, weil er meint, das ist ein Held, der eigentlich nichts mehr unternimmt, der nichts mehr macht, der in den Kreis der Götter aufgenommen ist und meditiert – was natürlich absurd ist, weil wie soll er denn ohne Kopf meditieren? Und daher fängt Winckelmann eben an, über das zu schreiben, was übrig geblieben ist, nämlich der Rücken, der Torso, die Muskeln, das Spiel der Muskeln, und daraus entnimmt Winckelmann letztendlich eben seine Definition und geht eben über das rein Körperliche hinaus. Und hier reden wir plötzlich eben von Kunst als einer Form der Bewegung, in Bewegung begriffen, wie eine Welle beispielsweise, nichts etwas mehr, was starr und fixiert ist.
Karkowsky: Sie hören den französischen Philosophen Jacques Rancière über sein Buch "Aisthesis", 14 Szenen, die beschreiben, wie Dinge zu Kunst wurden, die es vorher nicht waren im herkömmlichen Kunstbegriff. Eine Szene habe ich dort vermisst, Monsieur Rancière, und zwar die, wo Joseph Beuys uns mit allen Künstlern gemein gemacht hat durch seine Sätze "Alles ist Kunst, jeder ist ein Künstler". War das für Sie nicht bedeutend?
Rancière: Also gut, ich habe mein Buch nur bis zu einem gewissen Punkt geschrieben, bis es eine Form der Einführung der Modernität gibt, wie sie Clement Greenberg beschrieben hat, und Beuys kam einfach danach. Viele andere kamen danach, die Kunst einfach neu definiert haben, indem sie eben gesagt haben: Alles ist Kunst, jeder ist Künstler. Ganz ehrlich gesagt hat mich das aber nicht mehr wirklich interessiert.
Mich hat der Prozess interessiert, wie etwas, das man nicht für Kunst gehalten hat, zu Kunst wird, oder etwas, was in einer gewissen Form als Kunst empfunden wurde, neu definiert worden ist, neu benannt worden ist. Und all diese Entwicklungen eben, die dahin zielen, man gehöre gar nicht mehr der Kunstwelt an, weil alles Kunst sei, das finde ich dann wirklich nicht mehr so spannend, weil mich das Paradox interessiert hat, wie die Grenzen verschwinden, nicht unbedingt das Resultat daraus.
Karkowsky: Einen Ihrer Kernsätze im Buch sollten Sie uns am Schluss noch erklären, nämlich: "Die gesellschaftliche Revolution ist eine Tochter der ästhetischen Revolution." Ist es nicht umgekehrt, dass eine gesellschaftliche Revolution neue Bilder schafft und damit eine neue Ästhetik?
Rancière: Also was ich damit meine, was dahintersteht, ist, dass der junge Marx, bevor er überhaupt von der sozialen Revolution geredet hat, ja erst mal von einer menschlichen Revolution sprach, und natürlich basiert das wiederum auf den Ideen von Hölderlin, Hegel, aber vor allem eben auch von Schiller. Und das meine ich damit, dass Schiller sozusagen eine Art von ästhetischer Form über eine politische Revolution erhoben hat. Insofern rede ich davon, dass eben eine soziale Revolution letztendlich die Tochter einer ästhetischen Revolution ist.
Und dabei geht es mir nicht nur um die Ursprünge, sondern es geht mir auch darum, wie das dann weitergegangen ist innerhalb der sozialen Revolution, an der ja auch sehr viele Künstler teilgenommen haben, die auch ästhetisch etwas revolutionieren wollten. Aber ihnen ging es auch um Lebensformen, ihnen ging es auch um neue Formen des Denkens, und da sind sie natürlich ganz brutal aufgelaufen während der russischen Revolution, als sie sich dann plötzlich den Siegern dieser proletarischen Revolution gegenübersahen.
Karkowsky: Jacques Rancière zu Gast in Deutschlandradio Kultur, sein Buch "Aisthesis" ist erschienen im Passagen-Verlag, übersetzt wurde es von Richard Steurer-Boulard, 350 Seiten kosten 39,90 Euro, und dieses Gespräch wurde übersetzt von Jörg Taszman, auch dafür besten Dank!
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