Geistiges Vakuum

Rezensiert von Elfie Siegl · 30.05.2010
Sergej Minajew hat kein politisches Buch geschrieben, sondern einen Sozialroman. Er schildert das Ambiente der neureichen Russen, also jenes Spektrum der russischen Gesellschaft, das heute die Minderheit der Bevölkerung Russlands ausmacht.
Sergej Minajew ist selbstbewusst:

"Ich habe aus Langeweile zu schreiben begonnen. Dann wurde ich sehr populär. Ich bin einer der am besten bezahlten Autoren in Russland mit gigantischen Auflagen. Mit meinem ersten Buch "Seelenkalt" habe ich eine Millionen Dollar gemacht. Ich arbeite aber weiterhin im Weinhandel, weil mich das diszipliniert. Wenn man mich nicht zwingt, zu arbeiten, würde ich nichts tun."

So wie sein Held, der Ich-Erzähler in "Seelenkalt". Der ist zwar Topmanager bei einem französischen Konzern in Moskau, das aber füllt ihn nicht aus. Seine sowjetische Sozialisation versteckt er hinter einer westlichen Designer-Fassade. Beruflich hat er vor allem eine Aufgabe, die ihn aber nicht interessiert: Er muss den Druck, den er von oben bekommt, nach unten weitergeben.

Die besondere Kunst eines kaufmännischen Direktors besteht darin, freihändig auf der scharfen Schneide des betrieblichen Rasiermessers zu balancieren, dort, wo die Oberen nicht mehr denken wollen und die Unteren es per definitionem nicht können.

Sergej Minajew: "Die Hauptperson in 'Seelenkalt' ist ständig auf der Suche nach sich selbst. Mit 30 Jahren durchlebt der Held eine Sinnkrise. Er begreift, dass etwas schief läuft mit ihm und dass er sich ändern muss. Als Topmanager hat er überhaupt kein Familienleben, hat keinerlei Ziele. Sein Leben ist eine Party ohne Ende, nonstop. Natürlich ist er unglücklich. Er fühlt die geistige Leere und sucht die wahre Liebe, aber es gelingt ihm nicht, eine echte Beziehung mit einer Frau einzugehen."

Die Sinnlosigkeit seiner Existenz verdrängt er mit Aktivismus. Er hängt in teuren Nachtclubs rum, betrinkt sich bis zur Besinnungslosigkeit, berauscht sich an Drogen und flüchtigem Sex. Seine Clique besteht aus Männern, die längst ihre normalen Träume, Probleme und Alltagssorgen aufgegeben haben und aus Frauen, die sich in imitierte Heldinnen der Hochglanzmagazine verwandelt haben.

Tonnen von Parfüms und Kosmetika, Drogen und Diäten trocknen ihre Körper aus. Die unzähligen Trendmagazine und Fernsehshows tun dasselbe mit ihren Gehirnen. Am Ende sind sie jene unsichtbaren Menschen, die nur des Nachts das Haus verlassen können. Denn nur nachts, bei künstlichem Licht, bemerkt man nicht, was sich unter der Oberfläche der Make-Ups, der Prada-Kleider, Cavalli-Jeans oder Brioni-Anzüge befindet: vollständige Leere. Der Tag ist die Zeit für Menschen, die Nacht die Zeit der Mumien.

Sergej Minajew: "In Europa gibt es eine Schicht von Leuten, die man in Frankreich die Bohème-Bourgeoisie nennt, Bobo. Das sind Menschen, die genauso leben wie mein Held. In Russland ist quasi über Nacht sehr viel Geld da gewesen, und wenn du viel Geld hast, weißt du nicht, wie du damit umgehen kannst. Du beginnst, es für unnütze Dinge zu verplempern, Frauen, Drogen, teure Autos. Du kennst den Wert des Geldes nicht."

Die früheren Werte, mit denen Minajews Held aufgewachsen ist, gelten auf einmal nichts mehr. Neue Werte gibt es nicht. Die Folge ist ein geistiges Vakuum.

Wir zerschlagen die Ikonen, ersetzen die Religion durch die Performance und die Moral durch das Laster. Wir reißen die alten Tempel ein und schaffen Platz für neue Heiligtümer, an denen wir unseren eigenen Göttern huldigen. Und unsere Eltern sehen mit Tränen in den Augen zu, wie wir Stein für Stein zerstören, was ihnen lieb und teuer war. Wie schade, denken sie, wie schade, dass ihr von allen Wegen, die vor euch lagen, den Weg der Zerstörung gewählt habt.

Angeekelt sucht der Held nach Alternativen zu diesem Weg. Doch auch jene versprengten linken Intellektuellen, die mit ihm über Putin und das neue Russland philosophieren, sind letztlich nur am Geld interessiert - Geld, das sie nicht haben und das sie sich auf fragwürdige Art beschaffen wollen. Und so erscheint die Midlife-Krise des Ich-Erzählers ausweglos.

Sergej Minajew: "Ich verlasse meinen Helden im Augenblick seiner tiefsten Depressionen, auf der Brücke. Das Buch hat ein offenes Ende. Es ist nicht klar, ob er von dieser Brücke springt."
Sergej Minajew hat kein politisches Buch geschrieben, sondern einen Sozialroman. Er schildert das Ambiente der neureichen Russen, also jenes Spektrum der russischen Gesellschaft, das heute die Minderheit der Bevölkerung Russlands ausmacht. Der Riesenerfolg von Minajews Büchern ist darin begründet, dass die Leser sich nach einer authentischen Stimme sehnen, die ihnen den Insiderblick in das Neureichen-Milieu der Skandale und Affären ermöglicht, einen Zutritt zu der Welt also, die ihnen selbst verwehrt ist. Einer Welt seiner eigenen Generation, der in den 1970er-Jahren Geborenen, die so viele Chancen im Leben hatten und diese so grandios verspielten.

Ratten sind sehr aggressive Wesen, getrieben von permanenter, skrupelloser Fressgier. Schon damals dachte ich, dass wir, die jungen und aggressiven Vertreter des Moskauer Mikrokosmos, große Ähnlichkeiten mit diesen Tieren haben. Hemmungslos fressen wir die Welt, in der wir leben, auf, bis wir uns am Ende gegenseitig verschlingen und auf diese Art irgendwann selber ausrotten. Und wer weiß, ob an unsere Stelle vernünftigere Wesen treten.

Sergej Minajew: Seelenkalt
Aus dem Russischen von Olga Kouvchinnikowa und Ingolf Hoppmann
Heyne Verlag, München 2010