Gekrönte Häupter

Rezensiert von Winfried Sträter · 15.12.2005
Die Autoren des Buches "Die Macht des Königs" untersuchen Wegmarken der Königsherrschaft in Europa vom 5. bis zum 19./20. Jahrhundert. Beginnend mit dem Zerfall des weströmischen Reiches schlagen sie einen historischen Bogen bis zur Entmachtung des Königs in der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts.
Ist Karl der Große gegen seinen Willen gekrönt worden oder nicht? Das ist eine der großen Fragen, über die sich die Geschichtswissenschaftler seit über hundert Jahren den Kopf zerbrechen – zumindest die Mediävisten unter ihnen. Auch in populärgeschichtlichen Karlsbiographien spielt die Frage eine Rolle; sie wird aber zumeist auf recht einfache Weise "gelöst": man übernimmt die Darstellung des Karlsbiographen Einhard und phantasiert ein wenig über Karls Zorn nach dem weltgeschichtlichen Ereignis.

"Warum es so viele Versionen von der Kaiserkrönung Karls des Großen gibt. "

So ist ein Beitrag in Bernhard Jussens Sammelband "Die Macht des Königs" überschrieben. Am Titel und am Inhalt dieses Beitrags lässt sich exemplarisch verdeutlichen, worum es dem Herausgeber und seinen Autorinnen und Autoren in diesem Buch geht. Königsherrschaft ist ein zentraler Bestandteil der mittelalterlichen Geschichte. Sie beginnt mit dem Untergang des weströmischen Reiches und geht mit der Entmachtung des Königs in der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts zu Ende.

Die Autoren dieses Buches untersuchen Wegmarken der Königsherrschaft in Europa vom 5. bis zum 19./20. Jahrhundert – in chronologischer Reihenfolge, aber nicht als chronologisch geordnete Erzählung, sondern anhand von Fragestellungen. In der Kaiserkrönung Karls des Großen kulminiert der Aufstieg der Karolinger zur ersten westeuropäischen Großmacht des frühen Mittelalters. Diese scheinbare Gewissheit der Geschichtswissenschaft wird von der britischen Historikerin Janet L. Nelson aufgegriffen. War die Kaiserkrönung wirklich so wichtig, wie die Historiker sie üblicherweise bewerten?

Janet L. Nelson geht dieser Frage nach, indem sie die wichtigsten Erzählungen über die Kaiserkrönung zitiert und analysiert.

"Es geht um eines der berühmtesten Ereignisse der europäischen Geschichte. "

So leitet sie ihre Interpretation der Texte ein.

"Jedes Schulkind in Frankreich und Deutschland weiß von der Krönung 'Karls des Großen' am Weihnachtstag des Jahres 800. Und gerade weil jedes Schulkind davon weiß, wird der Historiker skeptisch. Denn einige geschichtliche Ereignisse haben die beunruhigende Eigenschaft, einmal größer und einmal kleiner zu werden, ja sogar die Gestalt vollständig zu wechseln. "

Man ahnt: Am Ende – nach genauem Studium der zitierten Erzählungen - steht Karls Kaiserkrönung in einem anderen Licht da. Selbst der Krönungstag und sogar die Krönung selbst sind fraglich. So berichten die Annalen des Klosters Lorsch schlicht, Karl habe 801 mit dem Segen des Papstes den Kaisertitel erhalten. Von Krönung ist keine Rede.

Der große Reiz dieses Beitrags – wie auch aller anderen – besteht darin nachzuvollziehen, wie man der Aussagekraft der Quellentexte auf die Spur zu kommen versucht. Denn, das belegen alle Textinterpretationen, die damaligen Erzählungen haben wenig mit dem realen Geschehen zu tun. Die Verfasser hatten eine bestimmte politische Botschaft auszusenden – und dementsprechend formten sie ihre Geschichte. Der berühmte Karlsbiograph Einhard etwa schrieb seine Vita zu einer Zeit, als das Klima zwischen dem Frankenreich und dem byzantinischen Kaiserreich vergiftet war. Er musste beim Bericht über Karls Kaiserwürde vorsichtig sein – und deshalb war es besser, die Schuld daran auf den Papst zu schieben. Dann war der Kaisertitel keine Kampfansage an den byzantinischen Kaiser, und Karls Ärger über den angeblichen Coup des Papstes sieht nach einer nachträglichen Erfindung aus diplomatischer Rücksicht gegenüber der damaligen Supermacht am Bosporus aus.

Der Sammelband bietet keine leichte Unterhaltung für Menschen, die sich gern vom Glanz der Königshäuser betören lassen. Stattdessen bietet er intellektuellen Genuss für historisch Interessierte. Wie verschlüsselt alte Erzählungen sind und wie viel Raffinesse nötig ist, um sie zu entschlüsseln: Das erfährt man in jedem der Beiträge. Sie sind wie kleine Labors: Man sieht, wie Historiker arbeiten, um rätselhafte alte Überlieferungen zu entziffern, sodass am Ende eine Geschichte erzählt werden kann. Dass die nicht immer eindeutig ist, gehört zu den Lehren, die dieses Buch vermittelt. Und doch erfährt der Leser, wenn er sich die einzelnen Labors aufmerksam angeschaut haben, eine Menge über das Königtum, nicht nur in Deutschland, sondern in Europa: denn es geht um eine vergleichende europäische Geschichtsschreibung.

"Was der frühmittelalterliche König mit der Wirtschaft zu tun hatte.
Wie der Typ des Alleinherrschers (monarchus) durchgesetzt wurde.
Weshalb Ludwig XIV. kein "absoluter" König war. "

Das sind Fragestellungen und zugleich Titel der einzelnen Beiträge.

Als die Heermeister des römischen Heeres den Kaiser entmachteten, bauten sie im 5. und 6. Jahrhundert Königsherrschaften auf. Am Ende, nach fast eineinhalb Jahrtausenden, mussten sich die Könige dem Volkswillen beugen, der sich in der Proklamation von Verfassungen niederschlug. Die konstitutionelle Königsherrschaft des 19. Jahrhunderts ebnete im 20. Jahrhundert der Demokratie den Weg, aber auch der Diktatur:

"Am Ende des Wandels der Königsherrschaft in Europa standen der politisch entmachtete König, der Präsident und der Diktator. "

Die Beiträge sind anspruchsvoll, aber gut lesbar geschrieben. Von international renommierten Historikern, wie der Beck-Verlag betont. Ärgerlich nur, dass die Autorinnen und Autoren nicht vorgestellt werden.

Bernhard Jussen (Hg.): Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit
C. H. Beck-Verlag 2005
478 Seiten, 38 Euro