Gelassenheit in Ostfriesland

Abwarten und ganz viel Tee trinken

Ein Teebeutel liegt auf einem weißen Teller.
Mindestens vier Teepausen pro Tag: in Ostfriesland wird mehr Tee getrunken als anderswo. © imago stock & people
Von Alexander Budde |
Tosende Wellen, kreischender Wind: Da starrt die Landratte gebannt auf den Bildschirm, der Küstenbewohner bleibt gelassen. Das liegt möglicherweise an den 300.000 Tassen Tee, auf die es ein Ostfriese in seinem Leben angeblich so bringt.
„Ja, dann erst mal Moin! Ich bin Hella Thiel – und soll Ihnen ein bisschen erzählen über Tee, Sitten und Gebräuche."
Hella Thiel begrüßt uns mit schroffer Herzlichkeit. Die alte Dame, Jahrgang 1939, gehört hier im Teemuseum von Norden zum unverrückbaren Inventar wie die originalgetreu erhaltene Küchenstube. Im Dutzend sind wir hier eingelaufen, gehetzte Urlauber, weit gereiste Städter. In fraglicher Verfassung sind wir allesamt – einige nesteln noch immer an ihren Smartphones, richten schamlos ihre Kameraobjektive auf die blauen Gardinen, auf den behaglich bullernden Ofen, auf Stövchen und Zuckerzange. Kaum merklich zieht unsere Zeremonienmeisterin eine Braue hoch.
„Jetzt werde ich, bevor ich noch lange rede, erstmal eine Tasse einschenken. Und am Teetisch hantiert auch nur immer eine Person."
Beim Teetrinken bleibt die Zeit stehen
Und so wird´s gemacht: In ihren bauchigen Teepott gibt Hella Thiel drei Schüppen echten Ostfriesentee. Ein Teelöffel pro Person und einer für die Kanne, so lautet eine andere, weit verbreitete Formel. Viel Assam, ein wenig Ceylon: maximal fünf Minuten dürfen die Blätter ziehen. Das dunkle, kräftige Gebräu lässt sich nur mit Kandis und Sahne genießen.
„In den ersten zwei Minuten werden anregende Stoffe freigesetzt und am Rest der Zeit die beruhigenden."
Es gehört einiges dazu, einen Friesen aus der Ruhe zu bringen. So alt wie die nordische Teekultur sind auch die Klagen über die maulfaule, hölzerne Volksgruppe. Die kollektive Harmonie mit eigenen Gedanken zu stören, erscheint Ostfriesen grob und rücksichtslos. Am liebsten wollen sie sich ohne Worte verstehen.
„Die Sahne wird immer raufgelegt linksrum, gegen den Uhrzeigersinn. Und warum? Weil man beim Teetrinken die Zeit anhält!"
Alles schlürft, alles schweigt. Hella Thiel hat Muße, uns von der Genese des Kultes zu erzählen. Vermutlich brachten friesische Schiffer in Diensten der Niederländischen Ostindien-Kompanie die kostbare Importware erstmals um das Jahr 1600 an Land. Dankbar wurde der Tee in Anspruch genommen. Zuvor hatten die Ostfriesen aus moorigem Wasser nur ein fahles, freudloses Bier gebraut.
„Ostfriesen sind ja sowas von heiß auf Tee! Ich kann mich erinnern an meine Großmutter, die hat auf dem Schwarzmarkt ihre goldene Uhr für 50 Gramm Tee verdaddelt. So schlimm war das!"
2800 Gramm Tee pro Person und Jahr - das ist Weltrekord
Über den Tag verteilt gönnt sich der Ostfriese mindestens vier Teepausen: die erste früh am Morgen, dann eine am Vormittag, wenn die Nachbarn vorbeischauen, eine am Nachmittag auf der Arbeit und auf jeden Fall noch eine zum Abendbrot. „Weltrekord!", freut sich unsere Gastgeberin.
„Man sagt, dass ein Ostfriese im Jahr 2800 Gramm Tee trinkt – und da sind alle Bürger, sind die Babys auch mit drin!"
Beim Reporter schlägt die dritte Tasse an: Schon träumt er sich hinweg, da sind der Strand, das Meer - und eine sanfte Brise geht. Hella Thiel, das nordische Urgewächs, sagt, dass die Teezeremonie für sie weit mehr als nur Konsum, dass sie vielmehr ein Stück Heimat sei.
„Ich denke ganz viel an das Teetrinken bei Großmutter. Und dann war der Backofen an, da konnte man seine Füße wärmen im Winter. Auch meine Enkelkinder streben immer zu mir, wahrscheinlich weil ich mehr Ruhe habe. Ostfriesen vom Kirchturm wegzukriegen, ist schwierig!"
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