Gelbwesten in Frankreich

Klassenkämpfer und Wutbürger

Ein Mann, der eine gelbe Weste trägt, schaut auf eine Straße, über die Rauch zieht
Wer steckt hinter den Gelbwesten? - Bei den Demonstrationen in Paris kommt es häufig zu Zusammenstößen mit der Polizei. © IP3Press/Imago
Von Margit Hillmann |
Die Gelbwesten halten die Republik in Atem. Manche liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei, plündern Geschäfte. Andere demonstrieren für mehr soziale Gerechtigkeit. Wer steckt wirklich in diesen gelben Westen? Linke, Rechte oder Wutbürger?
Die Gilets jaunes sind wieder das Topthema der Nachrichten. Wie jeden Samstag werden die Gelbwesten auch heute wieder auf die Straße gehen. Lautstark, kämpferisch und zum Teil gewalttätig. Sie eint ihr Hass auf Staatschef Macron. Aber woher rührt diese Wut? Was treibt sie an? Ich mache mich auf den Weg, zuerst zur Demo in Paris. Gelbwesten in Aktion treffen.
Sammelpunkt ist der Platz vor dem Finanzministerium. Polizisten sperren großräumig die Straßen ab, die zum Platz führen. Ein Auto rollt in eine Parklücke auf dem Boulevard Bercy. Zwei Männer in den Vierzigern steigen aus. Sie öffnen den Kofferraum, nehmen ihre Parkas heraus, zwei kleine Rucksäcke - und gelbe Westen.
Sie kommen aus Coulommiers, 60 Kilometer von Paris entfernt. Pascal, dichter Vollbart, schwarz-weiß getupftes Piratenkopftuch und sein Freund Stéphane, hager, tiefliegende Augen. Seit Mitte November sind sie bei jeder Demonstration in der Hauptstadt dabei.
"Wir sind hier um zu zeigen, dass die Gelbwesten fest entschlossen sind, nicht locker lassen."
Haben Sie was dagegen, wenn ich sie begleite? Kein Problem, sagt Stéphane. Der große Platz vor dem Ministerium ist schon voller Menschen in gelben Warnwesten: Männer und Frauen aller Altersgruppen, und – im kosmopolitischen Paris auffällig – fast alle sind weiß. Pascal und Stéphane steuern auf das Café am Platz zu, holen dampfenden Espresso. Wir trinken ihn draußen vor der Tür. Die Beiden wirken auf mich nicht wie Wutbürger im Kampfmodus: keine aggressiven Sprüche oder politische Diskurse.

"Wir demonstrieren friedlich, wir bauen keinen Scheiß!"

'Madame wollte auch mitkommen', sagt Pascal, und meint damit seine Frau. Aber weil sie drei kleine Kinder haben, bleibt sie besser zuhause.
"Das hier ist trotzdem riskant, ist schon viel passiert. Wie auf jeder Demo gibt es hier auch gewalttätige Idioten, die die Konfrontation suchen. Randalierer, rechts- und linksextreme Leute. Aber wir demonstrieren friedlich, bauen keinen Scheiß. Wenn irgendwo die Scheiße losgeht, hauen wir ab."
Eine Mittfünfzigerin – große Sonnenbrille auf der Nase, ein Pappschild mit einem Mandela-Zitat auf der Brust – hat mitgehört. Frankreich hat sich schrecklich verändert, sagt sie, verzieht das Gesicht. Überall wird man schlecht behandelt: bei den Behörden, der Bank, am Arbeitsplatz. Und dann die Wohnungsnot, die überfüllten Notaufnahmen in den Krankenhäusern.
"Das ist unmenschlich! Es gibt überhaupt keine Gerechtigkeit mehr. Macron und seine Regierung müssen begreifen, dass jetzt Schluss ist mit ihrem System. Weil Frankreich dagegen aufsteht. Was danach passiert – ob Marine Le Pen Präsidentin wird, oder jemand anderes – darüber zerbreche ich mir jetzt nicht den Kopf. Alles ist besser als dieser Alptraum!"
Ein Demonstrant der Gelb-Westen-Bewegung mit der französischen Fahne vor einer Mauer. Impression von den Gelbwesten-Protesten gegen Präsident Macron auf den Champs Elysées.
Auf zur Demo: Der Gelbwesten-Protest ebbt in Paris nicht ab.© dpa
Pascal und Stéphane wollen eine kleine Runde auf dem Platz drehen. Spätestens jetzt wird klar: die beiden ziehen lieber ohne mich los. Zum Abschied rufen sie mir noch zu: Ich solle vorsichtig sein, mich besonders vor den Gummigeschossen der Polizei in acht nehmen.
Die beiden verschwinden in der gelb gesprenkelten Menschenmenge. Die ist noch dichter geworden, setzt sich langsam in Bewegung.

Rechtsextreme mischen sich unter die Demonstranten

Männer mit weißen Armbinden lotsen die Ströme auf den Boulevard, beaufsichtigt von drei Männern mit roten Militärcappies und Orden auf der Brust. Breitbeinig stehen sie am Rand des Platzes, geben über Smartphone Anleitungen. Alle drei sind einschlägig bekannte Rechtsradikale.
Der Demonstrationszug wird immer länger, erstreckt sich über mehrere hundert Meter. Die Gelbwesten schwingen Frankreich-Fahnen und Transparente: "Macron Rücktritt!", "Weltrevolution gegen die Finanzwelt!". Und immer wieder Schilder mit der Aufschrift RIC. Die Abkürzung steht für Volksentscheid. In welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen sie abgehalten werden sollen, darauf bekomme ich nur schwammige Antworten.
Wir wollen mehr Demokratie, sagt Philippe, der sich die drei Buchstaben vorn und hinten auf die Weste gemalt hat. Er arbeitet im Louvre-Museum.
"Das Volk muss was zu sagen haben. Dafür brauchen wir Volksentscheide. Das ist die einzige Möglichkeit, unser Mitspracherecht durchzusetzen."
Das System der repräsentativen Demokratie würde er lieber heute als morgen abschaffen. Berufspolitiker sind korrupt, regieren die meiste Zeit gegen das Volk, sagt er. Einfache Bürger, per Los ausgewählt - die sollen die Geschicke des Landes lenken. Mit rechtsextremen Tendenzen in der Gelbwesten-Bewegung hat der Louvre-Angestellte kein Problem. Bei uns haben alle ihren Platz, wir schließen niemanden aus, verharmlost er. Auch Le Pen-Wähler nicht?
"Ich finde das positiv: Wenn man mit ihnen diskutiert, Meinungen austauscht - ist das eher eine gute Sache."
Vor uns blitzen Blasinstrumente auf. Junge Musiker, die Saxophone und Posaunen an die Lippen setzen.

Mehr Volksentscheide skandieren die Massen

Es geht quer durch die Stadt, über den Place de la Bastille, vorbei am Pariser Rathaus, Richtung Triumphbogen. An den Straßenrändern stehen neugierige Passanten und Touristen. Sie filmen die vorbeiziehenden Gelbwesten, machen Fotos oder winken ihnen zu.
5.000 Polizisten sind in Paris im Einsatz, sie haben Wasserwerfer und gepanzerte Fahrzeuge. Aber bisher ist nichts davon zu sehen. Die Gelbwesten sind friedlich, demonstrieren mit guter Laune. Selbst ihr Anti-Macron-Lied, das sie immer wieder anstimmen, klingt fröhlich.
Zwei Stunden später kippt die Stimmung. Bis zum Triumphbogen dürfen die Gelbwesten nicht ziehen. Sie lösen sich darum in kleine Gruppen auf, umgehen Polizeisperren, nähern sich auf verschiedenen Wegen dem Triumphbogen.
Auch mir gelingt das. Stehe schließlich ich nur fünf Minuten entfernt vom Arc de Triomphe entfernt auf dem Boulevard Haussmann. Etwa hundert Gelbwesten stehen hier, lose versammelt. Niemand ist vermummt, keine Schaufenster gehen zu Bruch und auch Autos stehen nicht in Flammen. Die Menschen rufen "Macron Rücktritt!" oder stehen einfach nur herum.
Vermummte "Gelbwesten" stehen im Tränengas.
Die Fronten sind verhärtet: Polizisten setzen Tränengas und Gummigeschosse ein.© AFP/Eric FEFERBERG
Tränengas wabert wie dichter Nebel über die Kreuzung. Die Leute weichen zurück. Urplötzlich und von Panik erfasst, beginnen alle zu rennen. Ich renne mit - als ginge es um mein Leben.
Polizisten mit Schlagstöcken und Schutzschilden jagen uns vor sich her. Gummigeschosse fliegen durch die Luft. In letzter Sekunde rette ich mich mit einem Dutzend Frauen und Männer in die nächste Seitenstraße - und breche die Reportage ab.

Polizisten jagen Demonstranten mit Schlagstöcken

Am Abend veröffentlicht das Innenministerium seine Zahlen: 84.000 Demonstranten landesweit, 8.000 in Paris. Knapp 160 Festnahmen allein in der Hauptstadt.
Die Gelbwestenbewegung ist bei Facebook entstanden, eine Graswurzelbewegung: Vor allem Wutbürger aus Kleinstädten und ländlichen Gegenden, die sich das verachtete und vergessene Volk nennen.
Ein paar Tage später bin ich mit Pascal und Stéphane verabredet, den beiden Gelbwesten aus Coulommiers. Pascal wohnt in einer Mietshaus-Siedlung, nicht weit vom Bahnhof. Zwei- und dreistöckige Häuser mit kleinen Vorgärten, dazwischen verwildertes Terrain. Die Hausnummer 12, ein weiß verputzter Bau mit Balkonen zur Straße.
Pascal trägt wieder sein Piratentuch, dazu ein breites Lächeln. Er geht voraus. Auf dem Boden, vor dem großen Flachbildschirm, spielen Pascals Töchter: achtjährige Zwillinge und die Große, 10 Jahre. Marylis, Pascals Frau, sitzt mit Stéphane an einem knallroten Esstisch.
Pascal bringt Kaffee, stellt Schälchen mit salzigen Knabbereien auf den Tisch. In einer Viertelstunde beginnt die TV-Liveübertragung: Macron wird vor 600 Bürgermeistern in der Normandie reden. Seit 14 Tagen das erste Mal, dass sich der Staatschef öffentlich äußert. Sind sie auf der Demo am Samstag noch zum Triumphbogen gegangen?

Mehr als hundert Schwerverletzte

Na klar waren wir da, antwortet Stéphane. Der Triumphbogen gehört schließlich allen Franzosen. Er fährt mit der Hand vorsichtig über seinen rechten Oberschenkel. Blau und geschwollen sei der – ein Gummigeschoss-Treffer. Ein zweites Geschoss sei nur knapp an seinem Kopf vorbeigegangen.
"Als wir beim Triumphbogen angekommen sind und es plötzlich anfing, Granaten und Gummigeschosse zu hageln, wollten ganz viele Leute weg. Aber die Bullen haben uns blockiert."
"Sie machen das, um Randalierer und Gewalttätige zu erwischen. Das Problem ist, dass die sich unter die anderen Demonstranten mischen. Aber die Polizei feuert trotzdem Granaten und Gummigeschosse ab. In die Menge, auch auf Frauen und Rentner! Das ist doch nicht normal!"
Über hundert Schwerverletzte haben französische NGOs und Journalisten seit Mitte November ausgemacht. Darunter besonders viele Kopfverletzungen: durchschossene Wangen, zertrümmerte Kiefer- und Nasenknochen, herausgebrochene Zähne. In mindestens fünfzehn Fällen der Verlust eines Auges. Alles Folgen des massiven Einsatzes von Handgranaten und Gummigeschossen.
Marylis sitzt jedes Mal wie auf heißen Kohlen, wenn ihr Mann Pascal und sein Freund Stephane mit den Gelbwesten demonstrieren gehen. Nicht mal unbewaffnete Frauen seien vor den brutalen Polizisten sicher.
Les salauds! - Dreckskerle, zischt sie und klappt ihr Smartphone auf, zeigt eines der zahllosen Videos über Polizeigewalt, die nach jeder Demonstration auf den Facebookseiten der Gelbwesten kursieren.
Zu sehen sind fünf Polizisten mit Schlagstöcken, die im schwachen Licht einer Bushaltestelle eine Gelbweste umringen, hemmungslos auf die Person einprügeln. Das Video ist nur wenige Sekunden lang. So oder so haben wir keine Wahl, meint Pascal.

Widerstand leisten gegen "die da oben"

"Macron will weitermachen, sein Ding durchziehen. Also müssen wir weiter samstags demonstrieren, uns Gehör verschaffen."
Sie wollen Widerstand leisten gegen die ungerechte Politik aus Paris. Gegen die gefühlte Ohnmacht, die sie seit Jahren umgibt. Gegen das harte Leben, das sie täglich fordert.
"Ich habe noch nie in meinem Leben demonstriert, aber das ist eine gute Sache. Stéphane und ich haben beschlossen, bei der Demo in Paris mitzumachen. Seitdem bin ich Gilet jaune."
Sie fühlen sich in die Ecke gedrängt. Beide sind arbeitslos. Stéphane, der mit Frau und Kind in der Nachbarschaft wohnt, bekommt vom Arbeitsamt monatlich knapp 900 Euro. Pascal hat 800 Euro Invalidenrente. Er hat über 15 Jahre auf dem Bau gearbeitet, als Gerüstbauer. Dann kamen die Schlaganfälle – zwei, kurz nacheinander. "Da war Schluss mit Arbeit", sagt Pascal trocken. Zwei Jahre ist das her. Seither drehen wir jeden Cent zweimal um, erzählt seine Freundin.
"Vorher hatte Pascal 2.000 Euro Gehalt. Aber jetzt mit der Behindertenrente – davon kann doch keiner leben. Wir leben nicht – wir überleben."
Mit dem Geld, das Marylis als Teilzeitpflegerin im Krankenhaus verdient, Kinder- und Wohngeld, rechnet Pascal vor, kommen sie auf 1.600 Euro im Monat. Nach Abzug der Warmmiete, Strom, Internet und Versicherung, bleiben der fünfköpfigen Familie knapp 500 Euro.
Die Gelbwestendemonstranten Stéphane und Pascal sowie dessen Ehefrau Marylis.
Was sich Stéphane, Pascal und Marylis wünschen? Vor allem mehr soziale Gerechtigkeit.© Margit Hillmann
Ob arbeitslos oder nicht – viele Franzosen kommen mit ihrem Geld einfach nicht mehr hin, sagt Pascal. Sein Blick verfinstert sich. Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch.

Geld reicht oft zum Leben nicht

"Ich würde Macron – unsern Monsieur le président - gerne mal für ein paar Tage in unsere Siedlung schicken. Mit dem bisschen Geld, was die Leute hier verdienen. Mal sehen, wie lange er das aushält?! Der würde hier durchdrehen! Aber die Reichen bleiben immer unter sich, die Armen auch. Die Politiker sind überall dabei, die Welt in Reiche und Arme auseinander zu dividieren!"
Marylis macht den Fernseher lauter: Das Treffen des Staatschef mit den Bürgermeistern hat schon angefangen. Die drei fixieren den Bildschirm – und hoffen, dass der Staatschef über die Forderungen der Gelbwesten spricht. Das Wiedereinführen der Vermögenssteuer, ein höherer Mindestlohn. Doch schon nach ein paar Minuten runzeln sie die Stirn, verdrehen die Augen, lästern. Zu arrogant finden sie den jungen Staatschef. Wie er da schon wieder mit dem Mikrofon in der Hand vor den Bürgermeistern auf und ab geht! Pascal hebt den Zeigefinger: Die anderen sollen ruhig sein.
Macron spricht über das Reizthema Spritpreise und Mobilität auf dem Land. Die Menschen in der digitalisierten Welt, sagt der Staatschef im Fernsehen, werden immer häufiger von zuhause aus arbeiten. Stéphane schlägt sich vor die Stirn.
"Was für einen Schwachsinn erzählt du uns!" blafft er wütend den Präsidenten auf dem Bildschirm an.
"Das nervt mich so! Von welcher Arbeit redet der? Es gibt hier keine Arbeit! Was sollen wir denn zuhause arbeiten?! Nicht auszuhalten!"
Stephane und Pascal haben genug. Macrons und ihre Lebenswelten – tausend Lichtjahre voneinander entfernt. Mit vergrätzten Gesichtern gehen sie vor die Tür eine rauchen.
Macron will die Gelbwesten für dumm verkaufen, zetern sie, die Leute mit seinem vornehmen und abgehobenen Gerede nur wieder einschläfern.
"Der macht Sätze, die ich überhaupt nicht verstehe! Der redet so kompliziertes Zeug, dass keiner was kapiert. Der soll mal normal Französisch sprechen. Wir reden Klartext: wir wollen Volksentscheide, mehr Kaufkraft, Vermögenssteuer für die Reichen. Schluss mit dem Gequatsche. Wir wollen Konkretes!"
Nach ein paar tiefen Zigarettenzügen haben sie sich beruhigt. Stéphane zeigt nach links auf ein cremefarbenes Mietshaus, keine hundert Meter entfernt. Da wohnt er mit seiner Familie. Sie fühlen sich hier wohl. Jeder kennt jeden, wenig Autoverkehr und Platz für die Kinder zum Spielen.
Aber leider sei ihre Kleinstadt Coulommiers längst auf dem absteigenden Ast: kaum Jobs, Geschäfte machen zu, Ärzte geben ihre Praxen auf und jetzt soll auch noch ihr Post schließen, erzählen sie. Pascal drückt seine Zigarette in einem herzförmigen Aschenbecher aus.

Schere zwischen Arm und Reich wächst

Der Fernseher ist wieder leiser gestellt. Marylis hilft ihrer ältesten Tochter bei den Hausaufgaben. Pascal gießt seinem Freund Kaffee nach. Sie hoffen, dass die Gelbwestenbewegung Macron aus dem Amt jagt. Und was kommt nach Macron? Le Pen?
"Normalerweise gehe ich nie wählen. Aber das nächste Mal schon – Marine Le Pen. ...Le Pen."
Le Pen, hake ich nach. Warum? Die ist für die Gelbwesten und gegen Ausländer, antwortet sie kurz und knapp.
"Der Mann von meiner Schwester kommt aus dem Kosovo. Der hat heute seine Arbeit und seine Firma. Und wir sind Franzosen und haben gar nichts!"
Das klingt so einfach: Schuld an der ökonomischen Misere haben die Ausländer. Ich hake noch mal bei ihr nach: Stört es Sie nicht, eine rassistische Partei zu wählen? Pascal nimmt sie in Schutz. "Das ist nur ihre Wut auf die Regierung", ruft er aus der Küche.
Ich werde niemals für die Rechtsextremen stimmen, sagt Stephane. Nicht mal, wenn die Gelbwesten ihren Kampf verlieren sollten. Pascal sieht das genauso. Sie wollen einfach mehr soziale Gerechtigkeit, einen Job, von dem sie leben können und - sagen sie - vor allem eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Stéphane nimmt seine dicke Windjacke vom Stuhl. Er humpelt noch ein bisschen. Macht nichts, nächsten Samstag für die Demo bin ich wieder fit, verspricht Stephane, grinst.
Die Samstagsdemos, die Vernetzung der Gelbwesten über Facebook – all das hält die Bewegung zusammen. Aber auch vor Ort, in ihren Dörfern und Kleinstädten versuchen die Gelbwesten, die Flamme am Brennen zu halten. Und in Champlan bei Paris sogar mit dem Segen des Bürgermeisters.
Auf dem Börsenplatz in Bordeaux sammeln sich die Demonstranten, Januar 2019
Gelbwesten-Protest in Bordeaux: Nicht nur in der Metropole gehen frustrierte Bürger auf die Straße.© Deutschlandradio / Jürgen König
Freitagnachmittag vor dem kleinen Rathaus: Ein rundes Männergesicht mit Bart erscheint flüchtig an einem der Fenster, ein paar Sekunden später öffnet sich die Rathaustür.
Christian Leclerc - stellt sich der Mittfünfziger vor. Er ist der Bürgermeister. Und einer der ersten Lokalpolitiker, der in seinem Rathaus ein 'Cahier de doléances' ausgelegt hat. Ein Beschwerdebuch, in das unzufriedene Bürger seiner Gemeinde hineinschreiben, was sich ihrer Meinung nach dringend im Land ändern muss.

Beschwerdebuch für unzufriedene Bürger

"Wir haben im November gesehen, dass die Gelbwestenbewegung Fuß fasst, sich rapide entwickelt und ausdehnt. Im Verband ländlicher Bürgermeister haben wir dann entschieden, Unzufriedenheit und Forderungen der Bürger unserer Gemeinden auszuloten. Was sie vom Staat erwarten."
Das Beschwerdebuch liegt auf seinem Schreibtisch. 55 eng beschriebene Seiten. Eine Kopie davon hat er inzwischen dem Präfekten des Departements überreicht. Der soll sie nach Paris weiterleiten: Der Beitrag seiner Gemeinde zur 'großen Debatte', zu der Staatschef Macron seine Landsleute Ende Dezember aufgerufen hat. Der Bürgermeister schlägt eine Seite auf.
"Steuern senken, Vermögenssteuer wieder einführen, Steuernischen stopfen, Unternehmer mit Fuhrpark zum Umstieg auf Hybridfahrzeuge zwingen, Mehrwertsteuer ist zu hoch! - Es geht ihnen hauptsächlich um mehr Steuergerechtigkeit."
Er klappt das Buch wieder zu, legt seine verschränkten Hände auf den Deckel. Frankreich befindet sich in einer tiefen Gesellschaftskrise, es herrscht demokratischer und sozialer Notstand, sagt er. Die Gelbwesten haben aufs Tablett gebracht, was sich seit Jahren auch in seiner Gemeinde zusammenbraut: Frust, Wut und Verbitterung über die da oben. Zu Recht, findet er.
"Es gibt weniger Perspektiven und Hoffnung. Sogar die jungen Leute haben heute das Gefühl, dass die Gesellschaft in den Rückwärtsgang geschaltet hat. Obwohl der technologische Fortschritt viele Möglichkeiten bietet, das Leben der Leute zu verbessern. Aber für Einkommensschwache und die Mittelschicht steigt die Lebensqualität nicht, sie nimmt von Jahr zu Jahr ab!"
Auf Zeit spielen, Polizeigewalt gegen friedlich demonstrierende Gelbwesten - für den parteilosen Lokalpolitiker sind das die falschen Methoden.
"Es gibt ein echtes Gerechtigkeitsproblem in unserer Gesellschaft. Wenn die da oben das nicht begreifen, ist irgendwann das ganze Land blockiert. Das wünsche ich niemanden, weil wir alle Verlierer wären."

Mehrwertsteuer runter, Vermögenssteuer hoch

Christian Leclerc respektiert die Gelbwesten, die in seiner Gemeinde aktiv sind. Seit fast drei Monaten trifft sich eine Gruppe jeden Tag in Champlan. Der Rathauschef geht sie hin und wieder besuchen. - Auf dem 'rond point Gutenberg', ein Verkehrskreis direkt vor der Autobahnauffahrt Richtung Paris, erzählt er mir. Einer der wenigen Treffpunkte, die noch nicht zwangsgeräumt wurden.
Es ist nach 17 Uhr. Ein Dutzend Leute steht im Innenzirkel des Kreisverkehrs. Ihre gelben Warnwesten leuchten, reflektieren das Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos. Es ist unter null Grad, der leichte Wind eisig. Sylvain - er gehört zu Organisatoren der Gruppe in Champlan - weiß schon wer ich bin. Er zieht seine Kapuze runter. Der Bürgermeister hat ihm vorhin eine SMS geschickt. Die Leute hupen, weil sie uns unterstützen. Viele halten an, um mit uns zu reden, sagt Sylvain. Der Mann neben ihn nickt. Bei ihm war es genauso.
"Weil ich hier jeden Tag nach der Arbeit vorbei fahre, habe ich mir gesagt: Irgendwann musst du mal anhalten. Letzten Samstag habe ich das gemacht. Seitdem komme ich hierher. Nicht jeden Tagen, aber so oft ich kann."
Knapp über die Hälfte der Franzosen sind pro Gelbwesten, sympathisiert mit ihnen oder unterstützt ihre Protestbewegung. Eine junge Frau kommt herüber: zwei kleine Mädchen in Mini-Gelbwesten im Schlepptau, eine Tasche mit einer großen Thermoskanne im Arm.

Viele Franzosen sympathisieren mit den Gelbwesten

"Normal. Ihr steht auch für uns hier draußen in der Kälte. Man muss zusammenhalten."
Sie stellt die Tasche auf den kleinen Proviant-Tisch mit den Kuchenresten, füllt dampfenden Kaffee in Pappbecher. Heute Abend sind weniger gekommen, wegen der Kälte, sagt einer der Gelbwesten. Aber morgen, Samstag, sind wieder jede Menge Leute da.
"Ärzte kommen hierher, Feuerwehrleute, Polizisten, Putzfrauen, Arbeitslose – alle möglichen Leute. Sogar alte Opis über siebzig, die hier jeden Tag mit ihrem Gilet jaune kommen."
Und was ist mit den vielen Streitereien unter den Gelbwesten-Sprechern? Mit den Morddrohungen gegen Mitglieder, die bei den Europawahlen antreten möchten? Sie sind eine junge Bewegung, die sich noch organisieren muss, wiegeln sie ab.
"Wir sind alle unterschiedlich. Also gibt es Konflikte, Leute, die sich zu wichtig nehmen und so. Das ist kompliziert."
"Gibt immer irgendwelche Leute, die sich nicht mit den anderen verstehen. Da gibt’s dann Spannungen. Das ist überall so."
Die beiden kleinen Mädchen balancieren die Kaffeebecher, reichen sie den Erwachsenen. Ihre Mutter findet es wichtig, sie einzubeziehen. Sie erzählt den staunenden Gelbwesten, dass die Ältere sogar ein Exposé über die Gilets jaunes für die Schule schreiben will.
Sie besucht die dritte Klasse, hat es selbst entschieden, sagt die Mutter stolz. Und dass die Lehrerin die Idee gut fand. Die zierliche Mittdreißigerin ist froh, dass es die Gelbwesten gibt. Sie haben schon jetzt viel bewirkt, sagt die alleinerziehende Mutter. Auch bei ihr. Sie versteckt ihre Geldprobleme nicht mehr.
"Vorher war es mir peinlich, darüber zu sprechen. Man fühlt sich schuldig, denkt: Die anderen schaffen das doch auch irgendwie. Vielleicht muss ich mehr arbeiten, oder in einem anderen Job. Dabei arbeite ich dreißig Stunden die Woche in einer Arztpraxis, am Wochenende als Putzfrau und Kellnerin im Restaurant. Jetzt habe ich begriffen, dass wir nicht nur einen Teil der Bevölkerung ausmachen. Fast ganz Frankreich ist betroffen. Unglaublich, wie viele Franzosen dieselben Problem haben."

Nationale Bürgerdebatte - alle Fragen sind erlaubt

Ein paar Tage später gehe ich zu ersten Pariser Grand débat, im Rathaus des 15. Pariser Arrondissement. Emmanuel Macron hat alle Bürgermeister im Land aufgefordert, den Franzosen die Rathaustüren zu öffnen. In öffentlichen Debatten sollen sie Kritik äußern und über Lösungen diskutieren.
Der große Rathaussaal ist brechend voll, ein zweiter Saal - via Leinwand dazu geschaltet - ebenfalls. 700 Leute, vor allem Ältere. Ganz hinten im großen Saal leuchtet eine gelbe Warnweste. Drin steckt ein 70-jähriger Rentner. Der einzige bekennende Gilet jaunes, der hier sitzt. Er wolle es mal mit Macrons Debatte versuchen, sagt er, ist aber schon jetzt mehr als skeptisch.
"Hier im Saal sind nur gut verdienende Leute. Denen sind unsere Probleme doch scheißegal. Das 15. Arrondissement ist reich. Dass sieht man sofort. Ich glaub nicht, dass ich bis zum Schluss bleiben werde."
Präsident Emmanuel Macron hält am 10.12.2018 eine Rede an die Franzosen. Grund: die anhaltenden Proteste der Gelbwesten-Bewegung.
Nationale Bürgerdebatten: Präsident Emmanuel Macron ruft Franzosen zu friedlicher Beteiligung daran auf.© picture alliance/dpa/MAXPPP
Zwei Stunden soll die Debatte dauern. Die erste Wortmeldung kommt von einer Frau in rosa Bluse. Ihre Alltagssorgen sind offenbar ganz andere als die der Gelbwesten.
"Ich bin total gegen die Immobiliensteuer, die man bezahlen muss, wenn der Wert der Immobilien pro Haushalt 1,3 Millionen Euro übersteigt. Es gibt viele Franzosen, die eine Wohnung in Paris und ein Haus auf dem Land haben. Da ist man doch sofort drüber, über die 1,3 Millionen. Außerdem bin ich dafür, dass ausnahmslos alle Franzosen Einkommenssteuer zahlen müssen. Und wenn es nur ein ganz bisschen ist. Dann könnte man auch die Immobiliensteuer wieder abschaffen."
Der Nächste kontert ärgerlich. Von wegen, die Armen bezahlen keine Steuern, sagt er.
"Die bezahlen doch Mehrwertsteuer und auch wie alle anderen die Sozialsteuer."
Zu niedrige Renten, zu viele Beamte, skandalös hohe Pensionen für ehemalige Staatspräsidenten, zu kostspielige Sozialpolitik - eine Lawine von Kritik bricht sich Bahn. Mal wütend, mal nüchtern vorgetragen.
Nach einer guten Stunde verlassen die ersten Leute den großen Saal. Vorzeitig geht auch eine große Blonde in schwarzem Mantel, eine Parlamentsabgeordnete der Regierungspartei La Republique en Marche. Sie ist sehr zufrieden.
"Die große Debatte ist extrem heilsam. Und sie ermöglicht uns Abgeordneten zu sehen, was die Bürger nicht verstehen, von dem was wir machen."
Ihr Taxi wartet. Sie stöckelt über den Rathausvorplatz, vorbei an drei Männern, die lebhaft gestikulierend aufeinander einreden.

Erschreckend viele rechtspopulistische Anhänger

Ein entnervter Pariser, der zwei Gelbwesten seine Meinung sagt: So was Absurdes wie die Gelbwesten gibt es doch nur in Frankreich, hält er den beiden vor. "Abwarten!" sagen die, streiten mit ihm, ob die Gilet jaunes das Recht haben, das ganze Land zu blockieren. Eine ältere Dame, die daneben steht, kommentiert mit einem leicht amüsierten Lächeln.
"Macron wollte die französische Gesellschaft in Bewegung bringen. En marche war sein Schlagwort. Die Gelbwesten haben ihn beim Wort genommen."
Ich habe vor allem Menschen getroffen, die wegen ihrer finanziellen Probleme auf die Straße gehen. Die noch hoffen, dass die Politiker reagieren. Aber es gibt auch die anderen. Gelbwesten, in deren Köpfen sich rechtspopulistische und rechtsextreme Ideen festgesetzt haben. Und sie sind schon erschreckend zahlreich.
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