Geld allein macht nicht glücklich

11.02.2012
Die Geschichte von Pip und seinem unverhofften Reichtum, von Miss Havisham, Estella und den anderen, zählt zu den komplexesten des berühmten britischen Autors Charles Dickens. Die neue Übersetzung arbeitet Dickens' Sprachwitz und sein parodistisches Talent glänzend heraus.
Zu seinem 200. Geburtstag wird Charles Dickens in Großbritannien frenetisch gefeiert. In Deutschland hält man sich zurück, bei uns ist die Neuübersetzung des späten Romans "Große Erwartungen" eine der ganz wenigen verlegerischen Großanstrengungen. Die hat sich unbedingt gelohnt, damit ist einer der komplexesten und modernsten Romane von Dickens in einer hervorragenden Übersetzung verfügbar, ein Buch, das das geläufige Bild vom sentimentalen Weihnachtsgeschichten-Dickens korrigieren kann.

"Große Erwartungen" ist ein Mischwesen aus realistischer Erzählung und unheimlichem Schauerroman, er führt in ein Reich der Gespenster, der Täuschungen und Manipulationen. Die Hauptfigur, Pip genannt, gehört in die lange Reihe von Dickens' armen Waisenkindern. Pip begegnet auf dem Friedhof einer Albtraumgestalt, dem Riesen Magwitch. Mit wüsten Drohungen bringt der geflohene Sträfling Magwitch Pip dazu, ihm bei seiner Flucht zu helfen.

Am anderen Ende der sozialen Skala trifft Pip auf einen weiteren Albtraum. Er wird zu der reichen Miss Havisham gerufen, die in ihrer verfallenden Villa die Zeit angehalten hat. Sie hat die die Uhren still gestellt zu dem Zeitpunkt, an dem sie vor Jahrzehnten von ihrem Bräutigam verlassen wurde. Als alte Frau geistert Miss Havisham im Brautkleid durch ihr Haus. Als Werkzeug ihrer Rache an den Männern hat sie sich Estella erschaffen, eine strahlend schönes, eiskaltes Mädchen, dem Pip schon bei der ersten Begegnung verfällt.

Diese Untoten und Automaten dirigieren Pip durch sein künftiges Leben, was er - und der Leser - erst viel später bemerken wird. "Große Erwartungen" tun sich für Pip auf, als ein anonymer Gönner den armen Lehrling zum Gentleman machen will und ihm dafür einen Blankoscheck ausstellt. Der vormals reine, unschuldige Pip zeigt dank seiner neuen Möglichkeiten Züge eines Blenders, eines Prassers und Aufschneiders. Aber er bleibt auch der alte Pip, in dieser Spannung ist er einer der komplexesten Charaktere von Charles Dickens.

Dieses Buch hat die Schwächen anderer Dickens-Romane: eine höchst sprunghafte Handlung, gespickt mit hanebüchenen Zufällen, mit denen der Autor die vielen Stränge seiner Erzählung zusammen zwingt. Vor allem aber zeigt der Roman die Stärken dieses Autors: eine dichte, plastische Atmosphäre und ein ganzes Reich von skurrilen Gestalten, die vor allem durch ihren Sprachgestus charakterisiert werden. Die Übersetzerin Melanie Walz hat die sprachlichen Eigenheiten dieses Figurenkosmos glänzend ins Deutsche gebracht. Bei ihr haben viele der Figuren aus der Londoner Ober- und Unterwelt ganz eigene Stimmen, die den Witz und den parodistischen Stil von Dickens zeigen.

Als Herausgeberin hat Melanie Walz die elegante Dünndruckausgabe des Hanser Verlags mit einem üppigen Apparat versehen. Dort wird die Entstehungsgeschichte der "Großen Erwartungen" als Fortsetzungsroman geschildert, die beiden ganz unterschiedlichen Fassungen des Romanschlusses werden diskutiert und die Verbindungen zwischen Dickens' Leben und diesem Buch deutlich gemacht. Mit dem Blick darauf kann man diesen autobiographischen Roman auch lesen als Lebensbilanz eines frühen Bestsellerautors, dessen eigene große Erwartungen an Reichtum und Erfolg enttäuscht worden sind.

Besprochen von Frank Meyer

Charles Dickens: Große Erwartungen
Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz
Carl Hanser Verlag, München 2012
829 Seiten, 34,90 Euro
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