Geld vs. ideelle Werte

Was ist den Europäern wirklich wichtig?

Von Nicol Ljubic |
Die eigentliche Herausforderung für Europa liegt jenseits des Mittelmeeres, sagt der Schriftsteller Nicol Ljubic. Entscheidend für die Zukunft des Kontinents sei nicht, welches Volk einem anderen etwas "schulde", sondern welche Antwort wir alle zusammen auf die Flüchtlingsfrage finden.
Ein Schriftstellertreffen, im Sommer in Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt in Griechenland. Geladen sind deutsche und griechische Autoren, wir sollen miteinander diskutieren. Das Thema lautet: "Vielfalt neu erfinden". Für mich ist es das erste Mal seit zehn Jahren, dass ich wieder in Griechenland bin. Seit dem letzten Besuch ist eine Menge passiert.
In der Wahrnehmung von uns Deutschen ist Griechenland heute nur eines: Krisenland. Ich merke es an mir selbst. Thessaloniki hat eine lange und vor allem multiethnische Geschichte, die Stadt wurde schon in der Bibel erwähnt, die frühchristlichen und byzantinischen Kirchen gehören zum Weltkulturerbe. Aber ich spaziere durch diese Stadt und bin eigentlich nur auf der Suche nach Zeichen der Krise.
Als dürfte ein Grieche abends nicht in der Bar sitzen
Die Cafés und Bars der Stadt aber sind voll, die Straßen wie eh und je mit Autos verstopft. Mir springt jeder Porsche ins Auge, der ab und an vorbeifährt. Ich frage mich: Wie kann das sein? Geht’s den Griechen doch nicht so schlecht? Allein, dass ich Stadt und Bewohner nach Krisensymptomen untersuche – jedes Lachen und jede Fröhlichkeit misstrauisch hinterfrage – zeigt, wie wenig wir uns als Menschen begegnen. In den deutschen Medien ist längst nur noch von Schuldnern und Gläubigern die Rede. Das sind die Rollen, die uns zugeschrieben werden. Als schuldete mir ein Grieche etwas, weil ich Deutscher bin. Als lebte ein Grieche auf meine Kosten. Als dürfte er deshalb abends nicht in der Bar sitzen.
Auch auf den Podien ist die Krise das Thema, das uns Deutsche besonders interessiert. Wie gehen unsere griechischen Kollegen mit ihr um? Natürlich machen sich die griechischen Autoren Gedanken über ihre Zukunft, gerade die jüngeren.
Die Jüngeren sorgen sich um die Flüchtlinge
Aber wir werden überrascht. Nicht die eigene Wirtschaftskrise ist das Thema, das ihnen am dringlichsten ist, sondern: die Flüchtlinge. Die Flüchtlinge, die ertrinken, und die Flüchtlinge, die täglich in Griechenland stranden. In einer EU, deren Länder nicht in der Lage sind, gemeinsam politisch zu handeln. Fünfzigtausend sind in diesem Jahr schon nach Griechenland gekommen. Und die Zustände sind so katastrophal, dass der Europäische Gerichtshof den anderen EU-Ländern verboten hat, Flüchtlinge ohne Prüfung nach Griechenland zurückzuschicken.
Während der Debatte meldet sich eine Frau aus dem Publikum zu Wort, eine Anhängerin der "Goldenen Morgenröte", der neonazistischen Partei. Sie spricht davon, dass das Land okkupiert sei von Flüchtlingen. Die "Goldene Morgenröte" hat bei den letzten Wahlen sechs Prozent bekommen und sitzt im Parlament. Wie schnell sich eine Stimmung gegen Asylsuchende verbreiten kann, kennen wir aus Deutschland und anderen europäischen Ländern, denen es wirtschaftlich wesentlich besser geht als Griechenland.
Die Zukunft Europas mit den Menschen verknüpfen
Die Griechen, so scheint es mir, erleben gerade, mit was sich Europa in Zukunft auseinanderzusetzen hat: Die eigentliche Herausforderung ist nicht Griechenland, es sind die Länder jenseits des Mittelmeeres. Und das Thema, das die europäische Politik in naher Zukunft wie kein anderes beschäftigen wird, ist der Umgang mit Flüchtlingen. Wir, die wir so stolz sind auf unsere Werte, auf die Menschenrechte, wir lassen Menschen zu Tausenden ertrinken. Wie wir mit Flüchtlingen umgehen, ist existenziell, nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für Europa, weil sich in eben diesem Umgang zeigt, was uns wirklich wichtig ist und wie ernst es uns ist mit unseren Werten.
Es ist die überraschende Erkenntnis meiner Tage in Thessaloniki, dass es die Griechen sind, die Europas Zukunft mit den Menschen verknüpfen, die zu uns flüchten. Vielleicht auch weil sie selbst erfahren haben, dass wir lieber eine humanitäre Krise in Kauf nehmen, bevor wir auf die Rückzahlung von Schulden verzichten.
Nicol Ljubic ist Schriftsteller, Journalist, freier Autor. 1971 in Zagreb geboren, als Sohn eines Flugzeugtechnikers in Schweden, Griechenland und Russland aufgewachsen. Er studierte Politikwissenschaften und besuchte die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg. Seit 1999 lebt er als freier Journalist und Autor in Berlin und war dort Mitinitiator der Europäischen Schriftsteller-Konferenz im Mai 2014. Sein jüngster Roman "Als wäre es Liebe" (2012) ist bei Hoffmann und Campe erschienen.
Der Journalist und Schriftsteller Nicol Ljubic. Der 1971 in Zagreb geborene Ljubic wurde für seine journalistische Arbeit unter anderem mit dem renommierten Theodor-Wolf-Preis ausgezeichnet. Über seine Erfahrungen nach dem Eintritt in die SPD schrieb er das Buch "Genosse Nachwuchs. Wie ich die Welt verändern wollte". 
Der Journalist und Schriftsteller Nicol Ljubic© picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler
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