Gemälde als Zeugnisse der beginnenden Globalisierung
Der kanadische Sinologie Timothy Brook analysiert in "Vermeers Hut - Das 17. Jahrhundert und der Beginn der globalen Welt" die Zeit, in der die Weltwirtschaft den Alltag zu verändern begann. Er erschließt Wirtschaft, Mobilität und Kultur des 17. Jahrhunderts anhand von Gemälden des Barockmalers Johannes Vermeer.
Über das 17. Jahrhundert als dem Zeitalter, in dem weltumspannende Warenverkehre zu zirkulieren begannen, liegen gute Bücher vor. Über Johannes Vermeer, den famosen holländischen Barockmaler, sowieso. Originell ist indessen, wie der kanadische Sinologe Timothy Brook in "Vermeers Hut" die Wissensbestände kombiniert und in Vermeers Gemälden den Spuren der frühen Globalisierung nachgeht. Hut, Schale, Karte – Brook identifiziert die Bildgegenstände mit größter Sachkenntnis, um vom Hut auf nordamerikanische Felljäger, von der Schale auf die chinesische Brennofenstadt Jingdezhen und von der Karte aufs Schicksal der portugiesischen Galeone Guia vor Macao zu kommen. Anhand diverser Waren, wie sie der Maler einst in der Hafenstadt Delft vorfand, skizziert Brook Wirtschaft, Mobilität und Kultur der gesamten Epoche. Dass er als Sinologe China besonders beleuchtet, kann gegenwärtig nur nützlich sein. Brooks Passion ist das Erzählen von Geschichte(n). Deshalb lädt "Vermeers Hut" auch solche Leser ins 17. Jahrhundert ein, die historische Fachliteratur meiden. Wer Vermeers Gemälde mag, wird darüber staunen, welche Dimensionen er in ihnen bislang übersehen hat.
Das größte, fast schon einzige Ärgernis des Buches ist die unelegant-sinnfreie Rede von der "globalen Welt" im Untertitel. Man verzeiht aber schnell, denn Vermeers Hut beginnt so einladend, wie Romane beginnen: "In dem Sommer, als ich zwanzig war, kaufte ich mir in Amsterdam ein Fahrrad…". Timothy Brook, der in British Columbia und Oxford lehrt, schreibt immer so konkret und alltagsnah, wie es irgend geht und die Quellen es zulassen. Er verzichtet (absichtsvoll) auf das abstrakte Begriffsbesteck des Historikers und auf akademische Reflexionen. Das Buch soll eindeutig beim großen Publikum wirken, nicht in der Wissenschaft.
Die mit Waren aus allen Himmelsrichtungen befrachteten Kais der Seefahrer-Nation Niederlande wurden einst als "Inventar des Möglichen" bezeichnet. Das gilt auch für die Kais von Delft, der Stadt, die für Brook das verbindende Dritte zwischen den überseeischen Handelsräumen und den fünf untersuchten Gemälden Vermeers ist (außerdem werden Werke Hendrik van der Burchs, Leonart Bramers sowie die Darstellung eines Fayencentellers erläutert). Entsprechend heißt das erste Kapitel "Der Blick von Delft ins 17. Jahrhundert", im Mittelpunkt steht Vermeers Ansicht von Delft. Dank vorzüglicher Orts- und Sachkenntnis entschlüsselt Brook die wirtschaftlichen Gegebenheiten, die in dem Bild zwischen Booten, Speichern und Türmen geronnen sind, und erklärt, warum Delft und Shanghai vergleichbare Städte waren.
Brook weist die Auffassung zurück, Gemälde seien simple "Fenster" zur Welt und verschafften unmittelbar Einsichten in die Vergangenheit. Statt "objektiver Realität" würden Vermeers klug komponierte Bilder "ein bestimmtes Szenario präsentieren", dessen Verständnis Fachwissen verlangt. Im Fall des Biberhuts im Gemälde Der Soldat und das lachende Mädchen greift Brook derart weit in die Geschichte der Besiedlung Nordamerikas, der Handels- und Waffenentwicklung aus, dass es jedem an Amerika Interessierten ein Vergnügen ist. Im Kapitel "Schiffbruch mit chinesischen Zuschauern" wird man vermittels des Gemäldes Der Geograph tief in den chinesischen Behördenapparat der späten Ming-Dynastie verstrickt. Nicht alle Abschweifungen erweisen sich als produktiv – aber der Atem der ersten Globalisierung bleibt stets spürbar.
Timothy Brook erzählt von den immensen Auswirkungen des Handels einerseits "auf die Welt", andererseits auf "die gewöhnlichen Leute". Die große Geschichte, die Politik der Mächte und Mächtigen hält er bewusst im Hintergrund. Der Effekt für den Leser: Er kann miterleben, wie im 17. Jahrhundert die Weltwirtschaft den Alltag von jedermann zu verändern begann. Auf flotte Aktualisierungen und Vergleiche verzichtet Brook. Dass man dennoch deutlich die Vorgeschichte der Gegenwart liest, gehört zu den erfreulichen Nebenwirkungen der Lektüre. Und die Gemälde Johannes Vermeers? Man lernt, sie als den schönsten Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des 17. Jahrhunderts zu genießen.
Besprochen von Arno Orzessek
Timothy Brook: Vermeers Hut - Das 17. Jahrhundert und der Beginn der globalen Welt
Edition Tiamat, Berlin 2009
270 Seiten; 18,00 Euro
Das größte, fast schon einzige Ärgernis des Buches ist die unelegant-sinnfreie Rede von der "globalen Welt" im Untertitel. Man verzeiht aber schnell, denn Vermeers Hut beginnt so einladend, wie Romane beginnen: "In dem Sommer, als ich zwanzig war, kaufte ich mir in Amsterdam ein Fahrrad…". Timothy Brook, der in British Columbia und Oxford lehrt, schreibt immer so konkret und alltagsnah, wie es irgend geht und die Quellen es zulassen. Er verzichtet (absichtsvoll) auf das abstrakte Begriffsbesteck des Historikers und auf akademische Reflexionen. Das Buch soll eindeutig beim großen Publikum wirken, nicht in der Wissenschaft.
Die mit Waren aus allen Himmelsrichtungen befrachteten Kais der Seefahrer-Nation Niederlande wurden einst als "Inventar des Möglichen" bezeichnet. Das gilt auch für die Kais von Delft, der Stadt, die für Brook das verbindende Dritte zwischen den überseeischen Handelsräumen und den fünf untersuchten Gemälden Vermeers ist (außerdem werden Werke Hendrik van der Burchs, Leonart Bramers sowie die Darstellung eines Fayencentellers erläutert). Entsprechend heißt das erste Kapitel "Der Blick von Delft ins 17. Jahrhundert", im Mittelpunkt steht Vermeers Ansicht von Delft. Dank vorzüglicher Orts- und Sachkenntnis entschlüsselt Brook die wirtschaftlichen Gegebenheiten, die in dem Bild zwischen Booten, Speichern und Türmen geronnen sind, und erklärt, warum Delft und Shanghai vergleichbare Städte waren.
Brook weist die Auffassung zurück, Gemälde seien simple "Fenster" zur Welt und verschafften unmittelbar Einsichten in die Vergangenheit. Statt "objektiver Realität" würden Vermeers klug komponierte Bilder "ein bestimmtes Szenario präsentieren", dessen Verständnis Fachwissen verlangt. Im Fall des Biberhuts im Gemälde Der Soldat und das lachende Mädchen greift Brook derart weit in die Geschichte der Besiedlung Nordamerikas, der Handels- und Waffenentwicklung aus, dass es jedem an Amerika Interessierten ein Vergnügen ist. Im Kapitel "Schiffbruch mit chinesischen Zuschauern" wird man vermittels des Gemäldes Der Geograph tief in den chinesischen Behördenapparat der späten Ming-Dynastie verstrickt. Nicht alle Abschweifungen erweisen sich als produktiv – aber der Atem der ersten Globalisierung bleibt stets spürbar.
Timothy Brook erzählt von den immensen Auswirkungen des Handels einerseits "auf die Welt", andererseits auf "die gewöhnlichen Leute". Die große Geschichte, die Politik der Mächte und Mächtigen hält er bewusst im Hintergrund. Der Effekt für den Leser: Er kann miterleben, wie im 17. Jahrhundert die Weltwirtschaft den Alltag von jedermann zu verändern begann. Auf flotte Aktualisierungen und Vergleiche verzichtet Brook. Dass man dennoch deutlich die Vorgeschichte der Gegenwart liest, gehört zu den erfreulichen Nebenwirkungen der Lektüre. Und die Gemälde Johannes Vermeers? Man lernt, sie als den schönsten Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des 17. Jahrhunderts zu genießen.
Besprochen von Arno Orzessek
Timothy Brook: Vermeers Hut - Das 17. Jahrhundert und der Beginn der globalen Welt
Edition Tiamat, Berlin 2009
270 Seiten; 18,00 Euro