Eine Kirche zieht um
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In Kleinwudicke gibt es eine Kirche, aber keine Gläubigen. Ein paar Orte weiter, in Jerchel, Gläubige, aber keine Kirche. Nun kommt die Kirche zu den Gläubigen. Behutsam wird die Kapelle von 1778 abgebaut, und am neuen Ort wieder aufgebaut.
Die Straße nach Kleinwudicke im Havelland ist eine Sackgasse. An ihrem Ende: ein paar Dutzend Häuser inmitten des vielen Grün, die Gaststätte Jägerheim und, fast im Wald, der Friedhof mit der kleinen Kapelle aus dem späten 18. Jahrhundert. Ein kleiner Fachwerkbau, Jahrzehnte sich selbst überlassen. Der Turm, der sich bedenklich neigt, musste bereits gestützt werden.
Der Bürgermeister hatte die Idee zum Umzug
Nun wird die kleine Kirche abgebaut. In Jerchel, ein paar Dörfer weiter, soll sie dann wieder aufgebaut werden. "Ja, in Jerchel gibt's die Gläubigen, aber keine Kirche, und hier in Kleinwudicke gibt's die Kirche und keine Gläubigen. Deswegen sind wir da mit der Idee zusammengekommen", erklärt Felix Menzel.
Menzel ist der Bürgermeister der Gemeinde Milower Land, zu der Kleinwudicke und Jerchel gehören. Die Kirche von Kleinwudicke nach Jerchel umzuziehen, war seine Idee. Und nachdem lange mit Denkmal- und Naturschutz verhandelt wurde und nun endlich der Förderbescheid da ist, geht der Rückbau los.
Ein Bauunternehmen birgt sehr sorgfältig Stein um Stein. "In den Container kommt nur der Putz, der an den Innenwänden und an der Decke war, und auch die Dachlatten, die man nich wiederverwenden kann. Aber ansonsten wird alles so eingelagert, was man hier sieht", erklärt ein Verantwortlicher.
Die Alternative wäre das Einstürzen gewesen
Vor wenigen Tagen erst hat der Abbau begonnen; drei, vier Mann sind damit beschäftigt. Den Status als Denkmal hat die kleine Kapelle damit verloren, den kann sie nur an ihrem historischen Ort haben.
Aber der Denkmalschutz hat die Kapelle unter der Bedingung aus ihrem Schutzstatus entlassen, unter der Bedingung, dass ein Bauforscher noch einmal alles haarklein dokumentiert. Dennoch ist es allen Beteiligten wichtig, den Denkmalwert der Kapelle zu erhalten.
Und so sehen die Kleinwudicker ihre Kapelle verschwinden, die da über 200 Jahre stand. Aber man habe lange diskutiert im Ort, um auch jeden anzuhören und mitzunehmen, sagt Bürgermeister Menzel. Letztlich habe die Kapelle keinem gefehlt, es habe sie ja ein halbes Jahrhundert lang auch keiner genutzt:
"Wir hatten ja nicht wirklich Alternativen. Wir hätten die Kapelle hier sichern können mit einem Stahlgerüst, so dass sie nicht einstürzt. Der Turm der Kapelle stand ja augenscheinlich schief. Ja? Das ist eine Frage der Zeit, dann wäre die Kapelle in sich zusammengefallen."
Premiere für Architektin Heidrun Fleege
In Brandenburg gibt es überall verfallende Gebäude, aber heute ist große Bühne für die kleine Kapelle im kleinen Kleinwudicke. Ein Fernsehteam des Rundfunks Berlin Brandenburg ist vor Ort. Heidrun Fleege, die Architektin, erklärt dem Bürgermeister die Baupläne vor laufender Kamera:
"Man kann sagen, den Stil, ich behalte ein Teil davon, dann gibt es eine zimmermannsmäßige Verbindung. Das sind Dinge, die kann diese Firma gut machen."
Architektin Fleege ist spezialisiert auf Denkmalpflege, sie hat schon einige Kirchen restauriert - aber noch keine Kirche abgerissen, um sie woanders wieder aufzubauen.
"Ich habe mich anfangs auch schwergetan, als ich von der Idee hörte, ein Denkmal abzureißen", sagt Fleege. "Und dann habe ich mir aber gedacht, wenn sie denn hier stehenbleibt und nicht genutzt wird, und wenn sie in Jerchel ein Gewinn wäre, hab ich gedacht: Dann muss man es tun."
Fördermittel von der EU für den Kirchenumzug
Zumal sie auch gar nicht stehen geblieben wäre. Das Bauamt verfügte im letzten Jahr den Abriss der einsturzgefährdeten Kapelle. Die Gemeinde aber zäunte sie ein, sicherte sie, so gut es ging und beantragte Fördermittel im Rahmen des Leader-Programms der EU, die dafür da sind, innovative Dinge im ländlichen Raum zu fördern. Heidrun Fleege unterstreicht die Besonderheit des Projekts:
"Es ist ja ein Stück Baukultur, was hier steht. Und dass man sagt: Wir möchten aber dieses Stück Baukultur als solches schon erhalten. Zwar nicht an Ort und Stelle, wir bringen die woanders hin – aber wir möchten sie nicht völlig überformen – einfach ein Stück von dieser gebauten Kapelle mitnehmen. Also Baukultur fortsetzen. Erhalten und fortschreiben."
Erhalten und fortschreiben. Das heißt: Altes erhalten und mit Neuem in einen Zusammenhang bringen. Wenn die Kapelle in Jerchel wieder aufgebaut wird, dann wird sie, obwohl sie dann kein Denkmal mehr ist, ihre Denkmalhaftigkeit behalten – aber auch einen modernen Anbau mit Küche und Toiletten bekommen.
Das ist nicht nur der innovative Ansatz daran, sondern auch die notwendige Zweckmäßigkeit. "Wir wollen das natürlich auch nutzen können", sagt Manuela Kästner, aktives Gemeindemitglied in Jerchel. "Und es ist natürlich ideal, wenn man da auch so ein Anbau dran hat und den natürlich modern gestaltet und die Kirche, ja, auf alt ist. Es sieht bestimmt ganz toll aus. Die Entwürfe der Architektin, die uns ja schon vorliegen, begeistern uns."
Kirche für Gemeinde, Kultur und Fahrradfahrer
Mehr als 1600 alte Dorfkirchen gibt es in Brandenburg. Die meisten größer als die kleine Kapelle in Kleinwudicke, die nur acht mal vier Meter misst. Stolze Sakralbauten, selbst in kleinen Dörfern stechen die mächtigen Türme hervor. Mehr als 30 Prozent von ihnen, so eine Einschätzung der Kirche, werden mittelfristig nicht mehr gebraucht.
"Die Evangelische Kirche hat viel zu viele Kirchen, viel zu viel Steine in Mitteldeutschland und hier in Brandenburg und überall", sagt die für Jerchel zuständige Pfarrerin Magdalena Wohlfarth. Nur: Ausgerechnet in Jerchel, wo man sich nach Räumen für die kirchliche Arbeit sehnt, gibt es keine Kirche mehr.
"Eigentlich geht es erstmal um einen Ort, den wir in Jerchel bräuchten, für die Gemeinde", sagt Wohlfarth. "Und darüber hinaus, hat sich herausgestellt, wäre es super als Kommunikations- und Begegnungsort und als Fahrrad- und Kulturkirche."
Neue Formen der Kirchenarbeit
Denn Kirche im alten Stil funktioniert vielleicht nicht mehr, in Brandenburg ohnehin nicht, nur noch jeder fünfte ist überhaupt Mitglied in einer Kirche. "Wir können nicht so tun, als ob wir noch Volkskirche sind, das sind wir einfach nicht mehr", sagt Pfarrerin Wohlfahrt. "Aber uns ist es schon ein Anliegen, den Aspekt des Glaubens schon auch zu transportieren mit dieser Kapelle - und dann auch mit Angeboten ganz neuer Art: die Leute einladen und vielleicht nicht der typische Gottesdienst, liturgische Gottesdienst, sondern neue spirituelle Formen zu finden, wo Leute sich angesprochen fühlen."
Wenn Jerchel dann wieder eine Kirche hat, ist das kein Gotteshaus im klassischen Sinne. Ein Stück weit erfinde sich die Kirche in Jerchel neu, so Wohlfahrt, "es ist vielleicht so eine Art kulturelles und spirituelles und gemeindliches Zentrum im Ort, und wir nutzen es gemeinsam. Es soll natürlich auch das Angebot sein, dass die Radfahrer da einkehren können und das als einen spirituellen Ort erleben können, als Ort der Einkehr. Und nicht nur, um sich vor dem Regen zu schützen."
Eine Radfahrerkirche soll es also auch werden. Das landschaftlich reizvolle Havelland ist durchzogen von Radwegen, mehrere führen durch Jerchel.
Die Glocke bleibt in Kleinwudicke
Bürgermeister Felix Menzel Jahrgang 1984, selbst Kleinwudicker, weist auf den schiefen, kleinen Glockenturm der Kapelle, noch steht er. "Ja, wir wollen zum einen was Neues in Jerchel schaffen, wollen aber die Kapelle auch nicht ganz aus Kleinwudicke verschwinden lassen", sagt Menzel. "Und die Kirchenglocke, die wurde von den Einwohnern aus dem Dorf gestiftet damals, die verbleibt hier in Kleinwudicke. Das ist der Kompromiss, den wir so mit dem Ort gefunden haben. Wir werden hier ein kleines Denkmal, so ein kleines Bauwerk errichten, so dass diese Glocke auch bei den Beisetzungen in Zukunft nutzbar bleibt."
In diesem Moment schlägt ein Handwerker oben im Turm die alte Glocke an. Ist das jetzt das erste Mal seit Jahrzehnten, dass die Glocke wieder ertönt? "Darüber darf ich eigentlich nicht sprechen", sagt der Bürgermeister und gibt dann zu: "Zwischendurch wurde sie schon mal heimlich geläutet. Wir haben schon mal geguckt, ob sie noch funktioniert."
Die Glocke sei wirklich wichtig für den Ort, betont Menzel: "Dadurch, dass die Glocke bleibt haben wir auch eine Brücke gebaut. Natürlich ist es so ein lachendes und ein weinendes Auge. Ja, so verschwindet ein Stück Geschichte, aber vielleicht schreiben wir ja heute auch die Geschichte von morgen."
Mehr als ein Gotteshaus
Jerchel, ein paar Dörfer weiter. Direkt an der Straße, mitten im Ort. Eine Wiese, nebenan die kleine Garage der Freiwilligen Feuerwehr.
"Für mich ist das so, als wenn Jerchel sein Herz wiederbekommt", sagt Hannelore Proske. In Jerchel gibt es, anders als in Kleinwudicke, aktive Kirchenmitglieder, Proske ist eines von ihnen.
"Wir haben hier im Ort Flyer verteilt. Und bei dieser Flyerverteilung haben wir eigentlich fast mit jedem Haushalt hier gesprochen, wie die Meinung des Dorfes dazu ist", erzählt sie. "Und wir waren erstaunt, dass die größte Anzahl der Dorfbewohner das gut fand, wenn wir diese Kapelle hierher holen."
Hier, auf der Wiese stand schon mal eine Kirche, eine stolze Fachwerkkirche aus dem 16. Jahrhundert. Sie stand lange leer, verfiel – und wurde 1982 abgerissen.
In Jerchel warten zwei Glocken
Jetzt, vierzig Jahre später, kommt etwas Neues. Aber nicht einfach so. Als reines Gotteshaus wäre der Ab- und Wiederaufbau der kleinen Kapelle nicht gefördert worden.
"Ja, wir mussten uns was überlegen, was wir in Zukunft mit diesem Gebäude alles veranstalten wollen", erläutert Gemeindemitglied Proske. "Unter anderem haben wir dann eben beschlossen, dass wir diese Kirche öffnen wollen für die Radfahrer – hier gehen ja die Fahrradwege durch: dass die Radfahrer dann hier im Sommer auch mal einkehren können, einmal zur Besinnung, aber auch, dass sie rein dürfen, wenn jemand mal auch die sanitären Einrichtungen benutzen möchte."
Und so zieht die kleine Kapelle aus dem kleinen Kleinwudicke nach Jerchel – ohne die Glocke, die wollen die Kleinwudicker ja behalten. Und auch das ist eine Fügung. Denn auch auf der Kirchwiese in Jerchel stehen zwei Glocken, auf einem Holzgestell. Die wollten die Jercheler ihrerseits nicht hergeben, als ihre Kirche abgerissen wurde.