Gemeindeleben

Pfarrer im Außendienst in Sibirien

Von Brigitte Lehnhoff |
Marcus Nowotny, gebürtiger Brandenburger, ist unterwegs mit dem Dienstauto – Richtung kasachische Grenze. In dem riesigen Verwaltungsbezirk Tscheljabinsk betreut er rund 1000 Katholiken. Er möchte ihnen gerne Heimat in der Kirche geben, doch das ist schwierig.
Marcus Nowotny:"Wir fahren jetzt von Tscheljabinsk aus nach Süden in Richtung Troitsk, wir fahren allerdings nicht direkt bis Troitsk, sondern wir haben ein kleines Dorf, was so das letzte Dorf vor der Stadt ist, Yasnie Poliany - haben auch noch andere Richtungen, die wir an anderen Tagen bedienen. Da geht‘s manchmal direkt Richtung Westen so schon in die Berge rein, Richtung Miass, Richtung Slataust, dann fahren wir nach Südwesten Richtung Magnitogorsk. Das ist so die weiteste Strecke, die wir haben. Da fahren wir in eine Richtung 340 Kilometer, alle anderen Orte sind dichter dran."
Ein Samstagvormittag im Mai. Pater Marcus Nowotny, gebürtiger Brandenburger, ist unterwegs mit seinem Dienstauto. Von der Industriestadt Tscheljabinsk am südöstlichen Rand des Uralgebirges fährt er in Richtung kasachische Grenze.
"Und wir haben sicherlich nicht den Überblick, wo überall Katholiken wohnen, aber wir haben bestimmte Punkte, wo die Leute warten, dass einmal im Monat wenigstens der Priester kommt, um mit denen Gottesdienst zu feiern."
Von der Gebietshauptstadt aus betreut der katholische Priester etwa 1000 Katholiken. Sie leben verstreut über den gesamten Verwaltungsbezirk Tscheljabinsk. Der ist flächenmäßig größer als die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen zusammen.
Kerzen, Kruzifix, Kelch und Hostienteller
Im Häuschen von Luisa Hellmehl, Witwe eines Russlanddeutschen, treffen die Gottesdienstbesucher ein: drei ältere Frauen und ein Mann. Die Ordensschwester, die den Pfarrer stets begleitet, bedeckt im Wohnzimmer den kleinen Tisch mit einem weißen Tuch. Darauf ordnet sie zwei Kerzen an, Kruzifix, Kelch und Hostienteller.
Nach dem Gottesdienst versammelt sich die kleine Gemeinde im Nebenzimmer um einen großen Esstisch. Jeder hat etwas Selbstgemachtes mitgebracht. Es gibt Plow, ein asiatisches Reisgericht mit Gemüse und Fleisch, Salate, eine Torte aus selbstgemachtem Quark und natürlich Tee. Am frühen Nachmittag fahren der Pfarrer und die Ordensschwester zurück, 140 Kilometer bei strömendem Regen.
"Das ist konkret für die Außenstationen immer eine Freude natürlich, wenn wir da kommen, aber perspektivisch muss man sagen, ist es zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Die Perspektive haben wir in Tscheljabinsk auf jeden Fall, da haben wir ein Zentrum, da kommen die Leute zu uns, wir können zu den Leuten gehen, können mit den Leuten Veranstaltungen machen, das geht in Tscheljabinsk besser."
Dort steht die vor mehr als zehn Jahren neu erbaute sechseckige Kirche mit Gruppenräumen, Büro, Gäste- und Pfarrerwohnung. Die Gemeinde in der Stadt Tscheljabinsk hat sich in den vergangenen 20 Jahren dreimal fast vollständig erneuert, sagt Pater Marcus Nowotny. Zwei große Auswanderungswellen nach Deutschland musste sie verkraften.
"Und trotzdem kommen heute mehr als 100 Leute sonntags zum Gottesdienst, also da gibt’s durchaus die Hoffnung, dass die hier vor Ort auch bleiben und wirklich sich versuchen mehr und mehr in die katholische Kirche zu integrieren und zu sozialisieren, von daher, also ne Perspektive gibt’s auf jeden Fall."
"Wir sind die Kirche der verpassten Chancen"
Nach dem Gottesdienst leitet der Pfarrer einen Glaubenskurs. Er doziert in der geräumigen Kirchenküche vor acht Frauen und Männern über Beichte und Krankensalbung, die Sakramente der Heilung. Aljona, eine junge Frau Ende 20, macht mit, weil Glaubensfragen sie gerade stark beschäftigen. Ich versuche, das Wort Gottes auf mein Leben zu übertragen, sagt sie:
"Auf der Arbeit bin ich geduldiger geworden, ich habe gelernt, offener zu sein, und es fällt mir jetzt leichter, meine Schwächen anzunehmen."
Was kann die katholische Kirche in Russland Menschen wie Aljona bieten? Entscheidende Fragen sind zu klären, meint Pfarrer Marcus Nowotny:
"Was kann man mit denen veranstalten, damit die Leute wirklich in der Kirche eine Heimat finden. Wir sind, manchmal nenn ich's die Kirche der verpassten Chancen. Also gerade was Jugendarbeit angeht, da hat man mal 'ne größere Menge Jugendlicher zusammen, aber dann versteht man's nicht wirklich, richtig mit ihnen zu arbeiten, also es ist so ein bisschen die vertane Chance."
Und es gibt noch ein Problem: das Geld. Die katholischen Gemeinden in Russland leben von ausländischen Unterstützern wie Renovabis, dem Osteuropa-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland, und Kirche in Not, dem päpstlichen Hilfswerk.
Marcus Nowotny: "Wir können sicherlich nicht so weiter machen, wie es die letzten 20 Jahre ging, das ist eindeutig, das sieht man auch an der ökonomischen Struktur, dass die ökonomischen Kräfte, die uns die letzten 20 Jahre sehr unterstützt haben, sich immer weiter zurückziehen, und wir werden uns strecken müssen, damit wir überhaupt über die Runden kommen, das ist sicherlich n großes Problem."
Im Gemeindehaus neben der katholischen Kirche in Tscheljabinsk geht es nicht nur mittags munter zu. Tagsüber werden dort Kinder betreut, deren Eltern arbeitslos, suchtkrank oder gewalttätig sind. In der kleinen Küche erledigt der Sozialarbeiter Andrej mit zwei Kindern den Abwasch:
"Der Pädagoge ist dafür da, dass die Kinder lernen, sich selbst zu versorgen, für sich selbst zu Hause zu kochen. Sie sollen vorbereitet werden aufs Erwachsenenleben. Einige werden deswegen immer zum Küchendienst eingeteilt."
Bistum Novosibirsk ist größer als Westeuropa
Der Kinderclub ist nur ein Beispiel für übergemeindliche professionelle katholische Sozialarbeit im Bistum Novosibirsk. Dies ist flächenmäßig allerdings größer als Westeuropa. Die Caritas der Diözese kann daher nur Modellprojekte in den größeren Städten Westsibiriens betreiben: Um benachteiligte Kinder zu unterstützen, Familien, alleinstehende Mütter oder pflegende Angehörige. Der katholische Wohlfahrtsverband leistet damit soziale Pionierarbeit, die von der orthodoxen Kirche teils argwöhnisch beobachtet wird. Den Grund nennt indirekt Waldemar Jesse, russlanddeutscher Pfarrer der evangelischen Gemeinde Tscheljabinsk und Propst am Ural:
"Ich kann von der katholischen Kirche einiges lernen. Zum Beispiel ihr diakonisches Engagement. Es wird sehr gut in der Bevölkerung aufgenommen, und wir als evangelische Kirche, zumindest hier in Tscheljabinsk, können uns von den Katholischen eine Scheibe abschneiden. Wir haben zum Beispiel noch keinen diakonischen Zweig und das ist das nächste auf meiner To-Do-Liste, so ein Zweig aufzubauen, nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung."
Innerhalb der Amtskirche ist die professionelle Sozialarbeit aber nicht unumstritten. Denn nicht alle Mitarbeiter der Caritas sind katholisch, die Klientel sowieso nicht, und das Geld für die Arbeit kommt bisher fast ausschließlich aus dem Ausland. Caritas lasse sich mancherorts daher so charakterisieren, meint Pfarrer Marcus Nowotny:
"Fremde Leute helfen mit fremdem Geld anderen fremden Leuten. Vom Selbstverständnis der Kirche aus gesehen, steht die katholische Kirche auf drei Standbeinen: Das eine ist die Liturgie. Das zweite Standbein ist das Zeugnis, das wir geben. Und das dritte Standbein ist die Caritas, die Wohltätigkeit, die wir leisten. Wenn die Wohltätigkeit mit der ganzen Kirche kaum noch was zu tun hat, wenn da Nichtkatholiken mit Geldern, die aus dem Ausland kommen, anderen Nichtkatholiken helfen, das ist toll und das ist super, dass den Leuten geholfen wird, aber das jetzt als Grundvollzug der katholischen Kirche darzustellen, wird schon bisschen schwierig."
Was ist wichtiger: die Institution oder der Mensch? Papst Franziskus würde wohl eine eindeutige Antwort geben.