Der literarische Blick nach Osten
44:08 Minuten
Auffallend viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen der Gegenwart beschäftigen sich mit dem östlichen Europa. Ihre Texte spielen oft in multiethnische Regionen mit deutschsprachigen Bevölkerungsanteilen.
Schlesien, Böhmen, Siebenbürgen, die Bukowina, das Banat oder Galizien – Schauplätze in multikulturellen Regionen Osteuropas üben auf viele zeitgenössische Autoren eine große Faszination aus. In ihren Familiengeschichten und Romanen schildern sie die engen kulturellen Verflechtungen der Ethnien, schreiben über Identität und Zugehörigkeit, über Trennendes und Gemeinsames. Auch die Gewalterfahrungen im 20. Jahrhundert sind immer wieder Thema.
Bei der Podiumsveranstaltung "Shared Heritage – gemeinsames Erbe" in der Berliner Staatsbibliothek diskutierten Schriftsteller – alle stammen aus multiethnischen Regionen mit deutschsprachiger Minderheit – über ihre literarische Arbeit.
Was den Kontinent zusammenhält
Literatur kann dazu beitragen, das Zusammenleben der Kulturen in Europa zu verbessern. Doch gibt es auch ein "gemeinsames Kulturerbe", das die Menschen verbindet? Das gebe es, sagt Joseph Zoderer, Schriftsteller aus Südtirol. Er sehe es als eine Art universelle Kraft:
"Für mich ist das gemeinsame Erbe die gemeinsame Kulturseele. Das heißt für mich auch unsere gemeinsame Sprachseele, die im antiken Griechenland zu atmen begonnen hat. Aber darüber hinaus ist es auch das Erbe der europäischen Werte: Humanismus, Durst nach Freiheit und die Erfahrung des Widerstands, die Erfahrung vor allem der Unterdrückung."
Catalin Dorian Florescu, 1967 in Rumänien geboren, als junger Mann in den Westen geflohen und heute in der Schweiz ansässig, verweist auf die Lehren der europäischen Geschichte:
"Aus der Erfahrung des letzten Jahrhunderts mit so vielen vernichtenden Kriegen und Diktaturen ist ein gemeinsames Erbe ganz sicher der Kampf um die Würde des Menschen – und das heißt: Demokratie."
Mit Besorgnis beobachte er, wie versucht werde, sie aufzuweichen: "In manchen Ländern im Westen, aber sehr wohl auch im Osten, wenn wir an Ungarn oder Polen denken."
Wo sind wir daheim?
Literatur über das östliche Europa kreist oft um Entwurzelung, Flucht und Vertreibung. Als Folge der Kriege auf unserem Kontinent leben Menschen in vielen Gegenden bis heute "zwischen den Kulturen". Die deutsch-polnische Autorin Sabrina Janisch schreibt in ihren Büchern aus dem Blickwinkel der Enkelinnen-Generation über die Suche nach Identität.
"In Deutschland, in Polen, in der Ukraine, egal, in welches dieser Länder man fährt, man hört eigentlich ähnliche Geschichten und ähnliche Versuche, neu für sich zu definieren, was Heimat sein kann und woran man sie eigentlich anknüpft. Das ist für mich wie ein gemeinsames Weben an einem Erzählteppich; eben dieser Versuch, für sich selber festzustellen: Wo sind wir nun daheim?"
Magische Dörfer
"Der Osten" ist für Autoren auch deshalb attraktiv, weil er Stoff für außergewöhnliche Geschichten birgt. Catalin Dorian Florescu liebt etwa an Rumänien, dass er dort "schräge Figuren voller Poesie" für seine Bücher findet. In der alten Heimat gebe es eine "gute Portion magischen Realismus".
"Grade rumänische Dörfer erscheinen einem wie aus einer lange, lange zurückliegenden Geschichte. Da haben sich noch so Formen bewahrt – Folklore, Mythen, Aberglaube, Legenden. Das ist alles noch da. Allerdings darf man das nicht zu stark idealisieren, denn der Preis dafür ist eine gewisse Rückständigkeit und sehr große Armut."
Die Podiumsdiskussion war Auftakt zur Veranstaltungsreihe "Shared Heritage – gemeinsames Erbe" im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands. Veranstalter sind die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Medienpartner ist Deutschlandfunk Kultur.
(tif)
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Die Gäste der Sendung:
Die Aufzeichnung fand am 19. November im Wilhelm-von-Humboldt-Saal der Staatsbibliothek zu Berlin statt.