Gemeinschaftliches Wohnen

Fantasievolle Antispekulationsprojekte

11:27 Minuten
Blick auf die Wohnanlage von WagnisArt in München
Bei WagnisArt gibt es auch viele Gemeinschaftsräume, zum Beispiel einen, in dem Waschmaschinen, Nähmaschinen und Trockner stehen. © Bernd Ducke
Von Burkhard Schäfers |
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Eine eigene Wohnung – und trotzdem in einer Gemeinschaft leben. Cluster nennt sich das Prinzip, das eine Genossenschaft in München umgesetzt hat. Auch in Berlin ist so eine enge Nachbarschaft gefragt. Bei den Planungen ist Kreativität gefragt.
"Ich wollte auch unbedingt Cluster. Ich find das schön, wenn ich abends heim komme, und dann steht die Kollegin da und kocht – und man hält noch einen kleinen Schwatz. Wenn ich keine Lust hab, mach ich halt die Tür zu."
Johanna De-Lesiecki lebt im Cluster. Wenn sie ihre Wohnungstür aufschließt, steht sie erstmal in einem 80 Quadratmeter-Gemeinschaftswohnraum mit offener Küche, großem Holztisch und Sofas. Heller Boden, weiße Wände, große Fensterfront. Davon gehen sieben Appartements ab – mit eigenem Bad und kleiner Kochecke. Das Ganze erinnert an eine große WG für Menschen, die längst aus dem Studentenalter raus sind.
"Wenn ich Wohngemeinschaft höre, dann muss ich immer protestieren, weil’s keine ist. Das ist eben der große Unterschied. Wir alle haben ja, glaube ich, in Wohngemeinschaften gewohnt, da hat man halt immer die gemeinsame Nutzung von Küche und Bad, die neuralgischen Punkte, wo es immer Streitereien gibt und wo man sich letztlich auch nicht ausweichen kann. Und hier hat man komplett – ich kann’s Ihnen auch zeigen – ein barrierefreies Bad …"
Zusammen mit ihren Mitbewohnern ist Johanna De-Lesiecki vor drei Jahren ins neugebaute Cluster gezogen.
"Wenn ich manchmal gefragt werde, wie viele Quadratmeter ich hab, dann mag ich’s immer gar nicht sagen, weil man das nicht vergleichen kann. Weil ich eben Haushaltsgegenstände gar nicht lagern muss, ich hab hier keine Waschmaschine, keine Spülmaschine, kein Bügelbrett. Große Schüsseln, Kochtöpfe – das benutzen wir hier gemeinsam. Das muss man alles nicht mehr selbst besitzen."
Und so, sagt De-Lesicki, habe sie auf ihren knapp 40 Quadratmetern plus großem Gemeinschaftsraum mehr Platz als andere in einer klassischen Drei-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung. Die Cluster sind Teil eines außergewöhnlichen Projekts der Münchner Genossenschaft "Wagnis".

Dachterrassen mit gemeinsamen Hochbeeten

Gruppiert um zwei offene Höfe liegen fünf Häuser, auch mit normalen Wohnungen. Die rund 200 Erwachsenen und 100 Kinder teilen sich verschiedene Gemeinschaftsräume. Ein Tobe-Raum mit Kletterwand. Ein Atelier für die künstlerisch Begabten. Eine große Werkstatt für Bastler und die, die ihr Fahrrad reparieren wollen. Dachterrassen mit gemeinsamen Hochbeeten, Alpenblick inklusive.
Ein Raum im Erdgeschoss, in dem Waschmaschinen, Nähmaschinen und Trockner stehen – daneben Sofas, Tische und Stühle, eine kleine Kaffee-Küche, eine Tauschbörse für Bücher und Spiele. Das ganze öffnet sich zum Innenhof, in dem nebeneinander ein Dutzend Bobbycars parken. Hier waschen die Nachbarn nicht nur Wäsche, sondern sie treffen und unterhalten sich: Und gleich daneben können die Kinder spielen, sagt Rut-Maria Gollan von der Genossenschaft Wagnis.
"Wir haben hier so einen Raum, wo selten keiner drin ist, weil es viele Anlässe gibt, hierher zu kommen. Man kann sich auch abends treffen, nochmal Karten zocken oder was besprechen. Bis dahin, dass man im gemeinschaftlichen Kühlschrank auch mal zu viel gekaufte Lebensmittel deponiert und sie nicht einfach wegschmeißen muss."
Oder die Gäste-Appartements in der Anlage – für die, die in ihrer Wohnung zu wenig Platz für Übernachtungs-Gäste haben:
"Jeder ist froh, wenn die Schwiegereltern für vier Tage kommen, und man zwischendrin auch mal ne Tür zumachen kann und jeder sein eigenes Bad hat und vielleicht auch dann aufstehen kann, wann er möchte."
Schön bunt: Briefkästen der Genossenschaftswohnungen von WagnisArt.
Schön bunt: Briefkästen der Genossenschaftswohnungen von WagnisArt.© Burkhard Schäfers
Die Idee des Projekts mit knapp 140 Wohnungen: In der Großstadt, wo Baugrund knapp und teuer ist, muss nicht jeder alles in seiner Wohnung haben. Einiges lässt sich teilen und gemeinsam nutzen. Die Bewohner sind Mitglieder der Genossenschaft, gemeinsam gehört ihnen die Anlage.
Als Mieter im eigenen Haus haben sie ein lebenslanges Wohnrecht, die Mieten sollen auf Dauer günstig bleiben. Das gibt Sicherheit: Niemand braucht Angst zu haben, wegen einer Mieterhöhung an den Stadtrand umsiedeln zu müssen, wo Arbeit, Freunde und Babysitter plötzlich weit weg sind.
Die Genossenschaft Wagnis gründete sich vor knapp 20 Jahren, hat in verschiedenen Projekten mehr als 500 Wohnungen und baut zurzeit weitere.
Etliche der jetzigen Bewohner haben die Anlagen gemeinsam geplant – über einen Zeitraum von mehreren Jahren.
"Hier ist sicher viel Gründungs- und Pioniergeist unterwegs. Es ist ein ganz hoher Gemeinschaftssinn. Das bedeutet aber auch einen hohen Anspruch an das, was an Kommunikation zu leisten ist und auch an Konflikten zu bewältigen ist."
Das Ganze mag etwas sozialromantisch klingen, aber natürlich lässt sich gute Gemeinschaft nicht verordnen – gestritten wird auch. Wie in vielen Nachbarschaften geht es meist um zu viel Dreck, Lärm und ums Thema Geld. Große Anliegen kommen ins Plenum, zu dem sich die Bewohner alle paar Wochen treffen. Etwa die Frage, wie Strom und Wasser in den Gemeinschaftsräumen abgerechnet werden, die die einen ständig nutzen und die anderen selten.

Jeder trägt Verantwortung für das gemeinsame Projekt

Wer hier lebt, übernimmt bestimmte Aufgaben, die den anderen zugutekommen: Kümmert sich um die Werkstatt, die Hochbeete auf der Dachterrasse oder darum, die Musik-Übungsräume zu belegen. Die gemeinsam genutzten Räume selbst verwalten – das ist das Prinzip der Genossenschaft Wagnis, sagt Vorstandsmitglied Rut-Maria Gollan.
"Was damit gemeint ist: Eine gewisse Form von Vertrautheit, von Sich-kennen, von Wahrnehmen, läuft beim anderen alles normal? Es ist nicht so, dass man dem anderen ständig ins Zimmer schaut, aber man merkt, wenn man jemanden nicht so sieht wie normal. Diese Achtsamkeit und die Verantwortung, und zwar auch die Verantwortung für dieses gesamte Projekt."
Wenn auf städtischem Grund Neubaugebiete entstehen, fördert München seit einiger Zeit gemeinschaftliche Wohnformen. Rund ein Drittel der Flächen sind für entsprechende Projekte reserviert. Damit gilt die Stadt bundesweit als Vorreiter. In den vergangenen 25 Jahren entstanden mehrere neue Genossenschaften mit dem Ziel, dass Wohnen bezahlbar bleibt, sagt Natalie Schaller von der Mitbauzentrale München.
"Am Thema Wohnen wird sich eine Stadtgesellschaft spalten. Wir sehen das ja an anderen Städten, die das eben falsch gemacht haben, wie London oder Paris, wie eine Segregation in der Stadt zu Unruhen führt. Und wenn wir in München keine Krankenschwester, keine Erzieherin, keinen Polizisten mehr haben, dann ist unser soziales Umfeld gefährdet. Ich denke, das sind Themen, die gehen uns alle an."

"Das sind Antispekulationsprojekte"

Die Wohnungsknappheit in Großstädten können gemeinschaftliche Projekte zwar nicht beheben. Dagegen helfe nur bauen, bauen, bauen, meint Beraterin Natalie Schaller. Aber:
"Letztendlich ist es natürlich ein sehr geeignetes Mittel, sich dämpfend auf den Wohnungsmarkt auszuwirken, weil das sind Antispekulationsprojekte. Leute, die für sich selber bauen, und die gerade auch z.B. beim Thema Genossenschaften darauf angelegt sind, dass niemand einen persönlichen Gewinn aus der Wertsteigerung eines Objektes oder Grundstückes zieht. Das ist auch ein Grund, warum die Stadt München die Genossenschaften als sehr starken Partner sieht."
In den Projekten der jungen Genossenschaften leben Sozialhilfeempfänger Tür an Tür mit denen, die normal oder überdurchschnittlich verdienen. Die junge Familie neben der geschiedenen Rentnerin. Sie alle sollen aber nicht nur nebeneinander wohnen, sondern im Alltag miteinander zu tun haben. Dafür braucht es das Café im Erdgeschoss, den belebten Hof, Räume zum Werkeln – und wo die Kinder spielen können.
"Gemeinschaft geht nur, wenn man auch einen Raum hat, in dem Gemeinschaft gelebt werden kann. Und wenn man die Nachbarn nicht kennt, bewegt man sich in so einem öffentlichen Raum anders, als wenn man die Möglichkeit hat, Gleichgesinnte zu finden für gleiche Ideen oder Engagement."
"Da arbeiten Leute, die Zirkus machen, die Musik machen. Da gibt’s Leute, die Häuser entwerfen, da gibt es Fotografen, da gibt es jemanden, der Kino macht, da gibt’s einen Café-Besitzer. Dass es eine bunte Mischung ist, und das Haus von morgens bis abends belebt ist."

Gemeinschaftliches Wohnen als Zukunftsmodell

Rainer Hofmann ist Architekt und hat zusammen mit Münchner und Berliner Kollegen vor kurzem die Genossenschaft "Das große kleine Haus" gegründet. Ihre Idee sind Neubauten mit je etwa zur Hälfte Wohnungen und Arbeitsräumen. Auf ihrer Website heißt es: "Wir sind große Freunde von einer dichten, bunten, urbanen, gemischten, multikulturellen, manchmal lauten und ereignisreichen Nachbarschaft."
"Insofern ist es auch ein Pilotprojekt, das wir vorhaben: Dass solche radikal gemischten Projekte möglich sind und dass sie auch eine Zukunft sind für die Stadt. Weil die Wohnghettos, die wir über Jahre geschaffen haben, führen zu einer geringen Zufriedenheit."
Die höchste Lebenszufriedenheit, sagt der Architekt, hätten die Städter, die in historisch gewachsenen Quartieren leben. Trotz dichter Bebauung, weil dort am meisten Leben sei. Natürlich bringt das, was seine Genossenschaft vorhat, auch Probleme mit sich: Klassische Vorgaben des Baurechts müssen überwunden werden. Sie suchen nach Förderungen für Gewerbetreibende, die wenig verdienen.
Bei der Planung müssen sie bedenken, dass sich laute Musik und konzentriertes Arbeiten oder die Ruhebedürftigkeit schlafender Nachbarn schlecht vertragen. Mit seinem Architekturbüro hat Hofmann schon Erfahrung mit gemeinschaftlichen Wohnprojekten.
"Da entstehen sehr, sehr gute Architekturen, sehr, sehr gute Häuser häufig. Weil man in diesem Prozess des Gemeinschaftlich-Entwickelns natürlich auf andere Ideen kommt und nicht den Druck hat, irgendwelche Formalien zu erfüllen. Deswegen, glaube ich, ist das ein Zukunftsmodell."
Indes haben alternative Wohnprojekte nur dann eine Chance, wenn sie bei der Vergabe von Grundstücken gegenüber klassischen Bauträgern bevorzugt werden. Sprich mit politischer Unterstützung. Mittlerweile spricht sich das mehr und mehr herum. Rut-Maria Gollan von der Genossenschaft Wagnis führt regelmäßig Politiker, Vertreter städtischer Baugesellschaften und Planer durch ihre Häuser.
"Wir sind auch stolz auf das, was wir geschafft haben. Und wenn sich Leute interessieren: Wir haben hier einen steinigen Weg hinter uns, um dahin zu kommen, wir zeigen das auch gern und wir reden gerne drüber."
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