Gen Himmel gereckt

Von Susanne Billig |
In seinem Werk "Epigenetik" schildert der Biologe Bernhard Kegel, dass nicht nur Gene vererbt werden, sondern auch die lebenswichtige Information, ob die Zelle diese benutzen soll oder nicht. Offenbar liegt unser Schicksal also nicht nur in den Genen.
Epigenetik - viele werden es schon mal gehört haben, viele werden aber auch nur eine vage Vorstellung davon haben, was sich hinter diesem Begriff verbirgt. Was ist so wichtig an der Epigenetik, dass der Autor Bernhard Kegel ein ganzes Buch darüber schreibt?

Also hatte Jean Baptiste Lamarck doch recht, der ja so als der große Gegenspieler Darwins gilt und der gesagt haben soll: Die Giraffen haben einen langen Hals, weil sie beim Fressen ständig den Kopf nach oben recken? Und Darwin - hatte er unrecht?

Wie leicht verständlich, wie schwierig ist das alles geschrieben? Ist es für Normalsterbliche überhaupt verständlich, was die Genetiker in ihren Laboren an genetischem und epigenetischem Wissen zusammentragen? Wie gelingt Bernhard Kegel die Übersetzung in unsere Alltagssprache?

Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft werfen: Als das menschliche Erbgut entziffert wurde, hieß es: Damit werden wir schon bald Krebs und andere schwere Krankheiten heilen. Heute ist es stiller um solche Versprechungen geworden. Was prophezeit Bernhard Kegel - wie viel medizinischer Nutzen wird sich aus der Epigenetik ziehen lassen?


An Beispielen dafür, dass die Umwelt Lebewesen massiv und bis in ihren Körperbau hinein beeinflussen kann, mangelt es nicht: Das Wetter entscheidet darüber, wie sich das Fell von Siamkatzen färbt, welche Muster auf den Flügeln von Schmetterlingen entstehen und ob Schildkröten männlich oder weiblich werden. Heuschrecken verwandeln sich, wenn sie mit ihren Artgenossen dicht an dicht leben müssen. Auf einmal wachsen ihnen kräftigen Beine und Flügel und sie fallen in neue Gebiete ein. Wenn Wasserflöhe die Ausscheidungen ihrer Jäger wahrnehmen, wachsen ihnen wehrhafte Dornen. Und aus den genetisch identischen Eiern eines Bienenstockes gehen, je nach Nahrung, emsig-sterile Arbeiterinnen oder fruchtbare Königinnen hervor.

Wie sind solche Phänomene zu erklären? Kennt die Forschung molekulare Mechanismen, die es Umweltfaktoren ermöglichen, Einfluss auf die Aktivität von Genen zu nehmen? Vererben Lebewesen umweltbedingte Eigenschaften auch an kommende Generationen? In seinem neuen Buch "Epigenetik: Wie Erfahrungen vererbt werden" beleuchtet der Biologe und Autor Bernhard Kegel Vererbungsphänomene jenseits der Buchstabenfolge unseres Erbguts.

Da gibt es die "Methylierung" - ein komplexes Muster winziger, chemischer Anhängsel legt Gene still oder gibt sie frei. Hinzu kommen Eiweißkomplexe, die sich mit der DNA dicht verpacken und ebenfalls Gene blockieren oder zur Abschrift freigeben können. Außerdem sind die Chromosomen im Zellkern so gelagert, dass örtliche Beziehungen möglicherweise eigene Botschaften für den Organismus enthalten. All diese Strukturen und "Codes" sind hoch flexibel, interagieren miteinander und sind ihrerseits komplexen Regulationsmechanismen unterworfen.

Wer die Reihenfolge der Einzelbausteine der DNA kennt, kennt den ganzen Organismus, so lautete in den Hochzeiten der Erbgut-Sequenzierung das Credo von Craig Venter, James Watson & Co. Damals warnten nur die als "Fortschrittsfeinde" geschmähten Gentechnik-Kritiker vor dieser allzu simplen Sicht der Dinge. Das molekulare Leben im Inneren des Zellkerns ist vielschichtig, interaktiv und flexibel organisiert - diese Erkenntnis wird in der Wissenschaft nun hoffähig. Mit sympathischem Tonfall und begnadetem Erzähltalent lässt uns der Autor das bunte Treiben von DNA, RNAs, Mini- und Makromolekülen des Zellkerns förmlich miterleben. Der weitgehende Verzicht auf Abbildungen ist da nur konsequent. Bernhard Kegel bedient metaphernreich das innere Auge.

Dass sich die Erkenntnisse der Epigenetik in absehbarer Zeit in neuen Therapien etwa gegen Krebs niederschlagen, hält der Autor für unwahrscheinlich, förderte die Epigenetik doch gerade eine ungeahnte Komplexität zu Tage. Auch warnt er davor, nach dem Gensequenzen-Hype nun der nächsten Euphorie zu verfallen. Zwar fordert Bernhard Kegel eine erweiterte Evolutionstheorie, die der vielfältigen, epigenetischen Kommunikation zwischen Individuum und Umwelt stärker Rechnung trägt. Dennoch wäre es seiner Ansicht nach verfehlt, Charles Darwin und alles, wofür er steht, kurzerhand zu entthronen: So vielschichtig und komplex wie das Leben sollte auch unsere naturwissenschaftliche Anschauung davon sein.

Über den Autor:

Bernhard Kegel, Jahrgang 1953, lebt in Berlin und Brandenburg, ist promovierter Biologe und Wissenschaftsautor. Außerdem schreibt er Romane an der Schnittstelle zwischen Wissenschaftspublizistik und fantastischer Literatur. "Wenzels Pilz", "Das Ölschieferskelett" oder "Der Rote" heißen einige seiner Titel. Für seine Bücher erhielt er unter anderem den Phantastikpreis der Stadt Wetzlar und den Brandenburgischen Literaturpreis Umwelt.

Bernhard Kegel: Epigenetik: Wie Erfahrungen vererbt werden DuMont-Verlag, gebunden, 367 Seiten, 19,95 Euro