Gender-Debatte

Verzeihung, ein Maskulinum!

In einem Zeitschriftenladen in New York ist die neueste Ausgabe der "Vanity Fair" zu sehen. Das Cover des Magazins ziert Caitlyn Jenner, die früher als Zehnkämpfer Bruce Jenner bekannt war.
In einem Zeitschriftenladen in New York ist die neueste Ausgabe der "Vanity Fair" zu sehen. Das Cover des Magazins ziert Caitlyn Jenner, die früher als Zehnkämpfer Bruce Jenner bekannt war. © imago
Von Kerstin Hensel |
"Mann" und "Frau" sind Wörter, die im Deutschen sehr häufig gebraucht werden. Soll man sie für ungültig erklären? Die Schriftstellerin Kerstin Hensel möchte sich das nicht vorstellen. Anders als der Gender-Mainstream, legt sie Wert auf den kleinen Unterschied.
Ich lebe unter Menschen, die unterschiedlicher nicht sein können: unter Atheisten, Christen, Juden, Moslems; unter Hell-, Dunkel-, Dick- und Dünnhäutigen; Glückskindern, Pechvögeln, Nerds; unter Hochbepreisten, Punks, Freaks, Säufern, Saubermännern, Kämpfern, Komplexgeladenen, An- und Abgestellten; unter Schwulen, Lesben, Hermen und Heten.
Wir wissen: All das, was uns vereint und unterscheidet, macht das Leben aus – das Schöne, Vertraute, auch das Schräge, Bizarre. Wir gehen selbstbewusst und freizügig mit uns um, wehren uns gegen Dummheit, Ungerechtigkeit, Rückständigkeit, lachen über vieles. Wir sagen selbstverständlich Ich und Wir, Mann und Frau. Auch Mann und Mann oder Frau und Frau.
Gleichheitskonzept im Namen der Political Correctness
Nun stellt sich ein Amazonenheer vor uns auf, das sich den Namen GENDER auf die Harnische geschrieben hat. Das Problem ist nicht der Gedanke, sondern die radikale Ideologie, mit der dieses Heer ein Gleichheitskonzept auf alles stülpt, was seinen Reiz, sein Leben aus Unterschieden bezieht. Die Gendermainstreamenden haben einen Beistandspakt geschlossen mit Political Correctness, Sprachsäuberern sowie deren Wächtern, mit Religionsmissionaren, Anti-Aufklärern aller Couleur, militanten Veganern und sonstigen Entsagungsfanatikern.
Pardon, jetzt sind mir generische Maskulina herausgerutscht! Und nein, ich gelobe keine Besserung! Die größte Entsagergemeinschaft, scheint mir, ist die der Humorlosen.
Über Geschlechterrollen wird in Mitteleuropa seit mehr als 100 Jahren diskutiert. Der Feminismus hat sein Hauptwerk getan. Das ist gut so. Die Befreiung der Frau aus den Knebeln des Machismo ist im Großen und Ganzen gelungen, auch wenn noch viel zu tun ist. Die gesellschaftliche Toleranz von sogenannten nicht-heteronormativen Geschlechtermodellen ist hierzulande vergleichsweise hoch. Mit Verlaub: Gab es für Homo- und Transsexuelle jemals so viel Verständnis?
Aber was müssen ich und andere, mit dem Leben durchaus Vertraute, sich sagen lassen? Beispiel: Literatur, die sich ironisch-satirisch mit dem Thema auseinandersetzt, sei unzumutbar, weil Gender eine durch und durch ernste Sache sei.
Heterosexualität als Merkmal evolutionärer Rückständigkeit
Auf meinen Widerspruch kommt der Vorwurf: Ich stamme aus dem Osten, da wüssten Frauen nicht, dass sie von Männern unterdrückt werden: Außerdem sei ich stramm heterosexuell, was auf meine evolutionäre Rückständigkeit schließen lässt.
Schauspielerinnen wollen keine klassischen weiblichen Rollen mehr spielen, weil von Molière bis Müller alle Dramatiker Sexisten seien. Professoren und Professorinnen werden von Studentinnen ausgepfiffen oder mit Ignoranz bestraft, wenn sie nicht im Femininum ihre Vorlesung halten.
Junge Leute – meistens übrigens Wohlstandskinder – begehren einander nicht mehr aufgrund sexueller Reize oder gar Unterschiede, sondern lieben nur noch „den Menschen an sich". Wir wissen nicht mehr, sagen sie, wer oder was wir sind. Das irritiert, das lässt sie das Leben irgendwie sinnlos erscheinen. Sie sind unglücklich, weil sie Angst haben, normal – also langweilig zu sein. Die Reihe ließe sich fortsetzen.
Ich bin nicht gegen die Forderung gleicher Rechte von Frauen und Männern. Im Gegenteil. Sie ist noch immer notwendig, vor allem, wenn man in andere Teile der Welt sieht. Es ist Ideologie und Hysterie, die mich abstoßen beziehungsweise lachen lassen. Die Gender-Debatte spaltet inzwischen die Gesellschaft, anstatt Empathie, echte Toleranz und wirkliches Sprachbewusstsein anzustreben.

Kerstin Hensel, Jahrgang 1961, geboren in Karl-Marx-Stadt, Autorin von Romanen, Gedichten, Theaterstücken, Essays. Sie arbeitet als Poetik-Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin. Mehr Infos unter: www.kerstin-hensel.de

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