Gender und Race in der aktuellen Literatur

Nur eine Etappe in einer emanzipatorischen Bewegung

11:17 Minuten
Eine Schwarze Frau sitzt hält einen Stift in der Hand und liest dabei in einem Buch.
Auch Romane mit emanzipatorischem Anliegen können misslingen, sagt unser Kritiker. © Unsplash / Gift Habeshaw
Von Samuel Hamen |
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Romane, die von Migration oder Identitätspolitik erzählen, sind im Trend. Gestritten wird dabei, wer wie über diese Literatur sprechen oder sie kritisieren darf. Der Literaturkritik fehle dabei das richtige Problembewusstsein, findet Samuel Hamen.
"Ich bin nicht euer Migrationsmaskottchen", stellte vor einigen Tagen die Schriftstellerin Rasha Khayat klar. Es geht Khayat wie vielen anderen um die Frage, wie Literatur heutzutage gemacht wird: Von wem wird sie geschrieben, von wem kritisiert und von wem gelesen?
2012 schrieb die US-amerikanische Schriftstellerin Meg Wolitzer über die sogenannte Frauenliteratur, darüber, dass Autorinnen nur bei Themen wie Liebe, Familie und Emotionen als Expertinnen gelten und ihre Romane oft diffus vereinheitlicht werden – als das, was "die da" schreiben.

Viele haben ein solidarisches Anliegen

Viele von Wolitzers Beobachtungen lassen sich auch heute machen, nur dass es um die sogenannte Migrations- oder Identitätsliteratur geht. Unterschiedlichste Bücher – von metahistorischen Erzählungen wie Sharon Dodua Otoos "Adas Raum" bis zu soziologischen Romanstudien wie Deniz Ohdes "Streulicht" – werden oft als ein Trend betrachtet, der ein paar Saisons lang anhält, als ein Genre, bei dem dasselbe Thema – irgendetwas mit Diskriminierung – angeblich ohne viel Variation wiederholt wird.
Viele der Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben ein solidarisches Anliegen. Sie wollen in Communitys hineinwirken, die sich selten mitgemeint fühlen, wenn von der Gesellschaft die Rede ist. Das kann zum Eindruck einer Bubble, eines geschlossenen Systems führen, weil dieselben Leute in spezifischen Codes über dieselben Themen reden und zu denselben Podiumsgesprächen eingeladen werden, um festzustellen, dass man zu oft auf eine Rolle, eine Eigenschaft reduziert werde.
Hieraus ergibt sich der Widerspruch, dass man selbst die Lage herbeiführt, die man gleichzeitig kritisiert. Im Hinblick auf Wolitzers Essay lässt sich das auf einer Zeitleiste aber als ein Moment der solidarischen Sammlung nach innen begreifen, als eine Etappe einer größeren emanzipativen Bewegung. Wolitzer schreibt, dass viele heute anerkannte Schriftstellerinnen im Zuge der Frauenbewegung der 1970er-Jahre erstmals verlegt und gelesen wurden. Wieso sollte es diesmal bei Büchern wie Asal Dardans "Betrachtungen einer Barbarin" anders sein?

Das Marketing der Verlage

Es ist sicherlich auch, aber nicht nur die Literaturkritik, die vor dem Hintergrund dieser sozialen Bewegungen ein Problembewusstsein bezüglich ihrer Arbeit entwickeln muss. Verlage vermarkten Romane, die sich unter anderem einem Thema wie Migration oder Gender annehmen, mithilfe weniger Schlagwörter, gleich als das "Buch der Stunde", sehr aktuell, sehr relevant und im Handel hoffentlich sehr erfolgreich.
Dass es in den Texten darum geht, enge Erwartungshaltungen hinter sich zu lassen, hindert das Marketing nicht daran, genau das Gegenteil zu betreiben und eine und nur eine Lesart zu bevorzugen.
Auch Romane, die sich mit Themen wie Selbstbestimmung und Auflehnung beschäftigen, können scheitern, weil die sprachliche Gestaltung misslingt. Das ist mitunter bloß ärgerlich, weil sie trotzdem behaupten können, relevant zu sein: Schließlich steckt hinter dem schlechten Schreiben ein guter Antrieb.

Kunstvoll mit eigenen Widersprüchen umgehen

Aber es kann auch einem Offenbarungseid gleichen, wenn Texte des 21. Jahrhunderts, die sich als emanzipiert betrachten, in einem konventionellen Realismus verfasst sind, wie er im 19. Jahrhundert von den berüchtigten "alten, weißen Männern" etabliert wurde.
In der Hinsicht kann denn auch die viel gescholtene Literaturkritik ihre Expertise einbringen, um auf formal gelungene Romane wie Tomer Gardis "Broken German" hinzuweisen, die kunstvoll mit den eigenen Widersprüchen umgehen.
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