Christian Bergmann ist Politikwissenschaftler, Publizist und Kurator. Zuletzt war er als Projektmanager an einem Berliner Think Tank tätig. Zwischen 2018 und 2020 war er der Politische Direktor und Co-Geschäftsführer der Suchmaschine für politische Publikationen Paul Open Search. Im Sommer 2015 hat er in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) in Berlin die Ausstellung "77-13 - Politische Kunst im Widerstand in der Türkei" initiiert und kuratiert.
Schon wieder Muff unter den Talaren
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Sie melden sich zu Wort, machen von sich reden, sind politisiert. Das gilt zumindest für viele Studierende hierzulande. Wie dieses streitbare Verhalten kommentiert wird, führt bei dem Politologen Christian Bergmann allerdings zu Irritationen.
Neulich bin ich über einen Fernsehbeitrag zum Thema Wissenschaftsfreiheit auf ein Interview mit der Frankfurter Professorin Ulrike Ackermann vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit gestoßen. Was Deutschlands - nach eigenen Angaben - einzige Freiheitsforscherin jungen Student*innen darin attestiert, hat mich perplex gemacht.
Sie spricht den Studierenden von heute die Fähigkeit des Streitens und Perspektivwechsels ab und schlussfolgert daraus, dass sich diese dadurch für sämtliche Führungspositionen disqualifizieren würden.
Der Habitus des Selbstgerechten
Damit, so könnte man wohlwollend abtun, stimmt Ackermann lediglich in das alte Klagelied über die Jugend mit ein, das Historiker*innen zufolge bereits vor über 5000 Jahren, in der Zeit der Sumerer, angestimmt wurde: "Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte" (ca. 3000 v. Chr., Tontafel der Sumerer).
Man kann darin aber auch eine schlichte Provokation ausfindig machen, die sich aus einem sich in der Forschungslandschaft hartnäckig haltenden Habitus der selbstgerechten und privilegierten Professor*innenschaft speist.
Im Zusammenhang mit studentischen Aktionen wie etwa dem Boykottaufruf wegen einer Vorlesung des AfD-Gründers Bernd Lucke an der Universität Hamburg oder dem Versuch, eine Konferenz zum Thema Kopftuch an der Frankfurter Goethe-Universität zu verhindern, werden gerne Kampfbegriffe wie Identitätspolitik oder Cancel Culture ins Feld geführt.
Zementstruktur des universitären Führungsapparats
Zusammenschlüsse wie das von Ackermann mitbegründete Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, das ein freiheitliches Wissenschaftsklima durch Ereignisse wie jener auf den Campussen in Hamburg oder Frankfurt gefährdet sieht, sind entlarvend und legen die Bigotterie der Ritter*innen der Meinungsfreiheit schamlos offen.
Denn schaut man einmal genauer auf die Zementstrukturen des universitären Führungsapparats, dann wird schnell deutlich, dass wir es mit einer homogenen Post-68er-Generation zu tun haben, der gegenüber junge Student*innen heutzutage erneut versucht sein dürften, das "Unter den Talaren…" anzustimmen.
Und diesmal jedoch um den "Muff von gerade mal etwas mehr als 50 Jahren" zu ergänzen, da in puncto eines Aufbrechens akademischer Hierarchien und Diversität in der Wissenschaftslandschaft über die letzten Jahrzehnte doch recht wenig Innovatives passiert ist.
Nach wie vor sind rund 75 Prozent der Professuren von Männern besetzt.
Einseitige Verwendung des Begriffs Identitätspolitik
Ebenso irritierend scheint, dass der Begriff der Identitätspolitik von gestandenen Universitätsprofessor*innen fast ausschließlich in Bezug auf emanzipatorische Bewegungen verwendet wird.
Dabei ist das Beharren auf Privilegien von zumeist weißen, männlichen Mitgliedern der vom Aussterben bedrohten Besoldungsgruppe C doch nichts anderes als eben: Identitätspolitik.
Globale Protestbewegungen wie etwa Fridays for Future oder die von zahlreichen jungen Menschen unterstützte Black Lives Matter-Bewegung, haben uns allen in den vergangenen Jahren eindrücklich vor Augen geführt, wie ernst es die kommenden Generationen mit dem Streit um unser aller Zukunft meinen, und haben für einen millionen-, wenn nicht sogar milliardenfachen Perspektivwechsel gesorgt.
Junge beweisen ihre Führungsqualitäten
Das Interessante dabei: Diese Bewegungen haben ihren Ursprung nicht in den Hörsälen, sondern auf der Straße. Ich finde, die junge Generation hat ihre Führungsqualitäten bereits eindrücklich unter Beweis gestellt. Für die kurz vor dem Ruhestand stehende Generation gilt wohl leider das Gegenteil.
Letztendlich drückt sich in der Tatsache, dass gewisse Themen rund um persönliche Identitäten und Weltbilder heute nicht mehr zur Verhandlung stehen, nichts weiter aus als - um es mit der alten Rechtsweisheit Georg Jellineks zu benennen - die normative Kraft des Faktischen.