Genetisch entschlüsselt
In ihrem schmalen, aber gehaltvollen Büchlein "Das Gen im Zeitalter der Postgenomik" zeichnen die Wissenschaftshistoriker Staffan Müller-Wille und Hans-Jörg Rheinberger nach, wie sich die wissenschaftliche Vorstellung von Vererbungsprozessen immer wieder wandelte.
"Man wird eine CD aus der Tasche ziehen und sagen können: Hier das ist ein Mensch; das bin ich." So euphorisch beurteilte Walter Gilbert, US-amerikanischer Nobelpreisträger und Pionier der Genforschung, das frisch aus der Taufe gehobene Humangenomprojekt. Anfang der 90er-Jahre leiteten Forscher und Geldgeber weltweit die "Entschlüsselung" des menschlichen Erbguts in die Wege - doch dann wurde alles immer komplizierter.
In ihrem schmalen, aber gehaltvollen Büchlein "Das Gen im Zeitalter der Postgenomik", erschienen im Suhrkamp Verlag in der Edition Unseld, zeichnen die Wissenschaftshistoriker Staffan Müller-Wille und Hans-Jörg Rheinberger nach, wie sich die wissenschaftliche Vorstellung von Vererbungsprozessen immer wieder wandelte. So erwarteten Genforscher zu Beginn des Humangenomprojekts mehr als 100.000 Gene im menschlichen Erbgut - am Ende waren es gerade einmal 25.000. Statt eindeutiger Regeln und Gesetze fand man ein Netzwerk komplexer Wechselwirkungen, verschiedenster Regulations- und Aktivierungselemente, eingestreuter Sequenzen, springender Gene und riesiger DNA-Bereiche ohne erkennbare Funktion. Dazu kommen epigenetische Phänomene, über welche Zellen unabhängig vom DNA-Code ihren Aktivitätszustand auf Tochtergenerationen übertragen können. "Postgenomik" eben: Von einer Gestaltung der Organismen direkt und ausschließlich über das Genom kann keine Rede mehr sein.
Doch gab es in der Wissenschaft jemals ein naives und reduktionistisches Verständnis dessen, was Gene sind und wie Vererbung funktioniert? Staffan Müller-Wille und Hans-Jörg Rheinberger halten dagegen: Von Beginn an sei der Begriff "Gen" im Fluss gewesen und gerade seine Unschärfe habe sich als wissenschaftlich produktiv erwiesen. Die Rede vom "Gen für dies" und "Gen für das" sei irreführend. Tatsächlich sei Genetikern – die Autoren verfolgen ihre Spur vom 19. bis ins 21. Jahrhundert - immer bewusst gewesen, wie vorläufig ihre Erkenntnisse waren.
Wissenschaft finde grundsätzlich an den Außenrändern des Bekannten statt, urteilen die Autoren – ein wenig euphemistisch: Dass gerade die ideologisch hoch aufgeladene Genetik Modewellen folgte und propagierte, wird in ihrem Buch wenig erwähnt. Immerhin stammt die Rede vom "Gen für dies" und "Gen für das" aus dem Munde der Protagonisten der Genomforschung, und von der Komplexität des Lebendigen sprachen zur Prime Time dieser Forschungsrichtung, die Millionen verschlang, welche an anderer Stelle nicht ausgegeben wurden, vorwiegend ihre Kritiker.
Offen bleibt, so schließen die Autoren, ob und wie lange die Modelle der Biologie gen-zentriert bleiben werden. Embryologie, Evolutionsforschung und Stoffwechselphysiologie sehen genetische Informationen heute eher als Ressourcen, derer sich Zellen und Organismen auf vielfältige Weise bedienen. Doch selbst wenn es "das Gen" als reale Einheit nicht geben mag, bietet die Verwendung gen-zentrierter Modelle doch Möglichkeiten der Manipulation von Lebensprozessen. So lange das gewünscht und auf andere Weise effektiver nicht zu bewerkstelligen ist, wird es "das Gen" auch morgen noch geben.
Besprochen von Susanne Billig
Staffan Müller-Wille, Hans-Jörg Rheinberger: Das Gen im Zeitalter der Postgenomik, Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
156 Seiten, 10 Euro
In ihrem schmalen, aber gehaltvollen Büchlein "Das Gen im Zeitalter der Postgenomik", erschienen im Suhrkamp Verlag in der Edition Unseld, zeichnen die Wissenschaftshistoriker Staffan Müller-Wille und Hans-Jörg Rheinberger nach, wie sich die wissenschaftliche Vorstellung von Vererbungsprozessen immer wieder wandelte. So erwarteten Genforscher zu Beginn des Humangenomprojekts mehr als 100.000 Gene im menschlichen Erbgut - am Ende waren es gerade einmal 25.000. Statt eindeutiger Regeln und Gesetze fand man ein Netzwerk komplexer Wechselwirkungen, verschiedenster Regulations- und Aktivierungselemente, eingestreuter Sequenzen, springender Gene und riesiger DNA-Bereiche ohne erkennbare Funktion. Dazu kommen epigenetische Phänomene, über welche Zellen unabhängig vom DNA-Code ihren Aktivitätszustand auf Tochtergenerationen übertragen können. "Postgenomik" eben: Von einer Gestaltung der Organismen direkt und ausschließlich über das Genom kann keine Rede mehr sein.
Doch gab es in der Wissenschaft jemals ein naives und reduktionistisches Verständnis dessen, was Gene sind und wie Vererbung funktioniert? Staffan Müller-Wille und Hans-Jörg Rheinberger halten dagegen: Von Beginn an sei der Begriff "Gen" im Fluss gewesen und gerade seine Unschärfe habe sich als wissenschaftlich produktiv erwiesen. Die Rede vom "Gen für dies" und "Gen für das" sei irreführend. Tatsächlich sei Genetikern – die Autoren verfolgen ihre Spur vom 19. bis ins 21. Jahrhundert - immer bewusst gewesen, wie vorläufig ihre Erkenntnisse waren.
Wissenschaft finde grundsätzlich an den Außenrändern des Bekannten statt, urteilen die Autoren – ein wenig euphemistisch: Dass gerade die ideologisch hoch aufgeladene Genetik Modewellen folgte und propagierte, wird in ihrem Buch wenig erwähnt. Immerhin stammt die Rede vom "Gen für dies" und "Gen für das" aus dem Munde der Protagonisten der Genomforschung, und von der Komplexität des Lebendigen sprachen zur Prime Time dieser Forschungsrichtung, die Millionen verschlang, welche an anderer Stelle nicht ausgegeben wurden, vorwiegend ihre Kritiker.
Offen bleibt, so schließen die Autoren, ob und wie lange die Modelle der Biologie gen-zentriert bleiben werden. Embryologie, Evolutionsforschung und Stoffwechselphysiologie sehen genetische Informationen heute eher als Ressourcen, derer sich Zellen und Organismen auf vielfältige Weise bedienen. Doch selbst wenn es "das Gen" als reale Einheit nicht geben mag, bietet die Verwendung gen-zentrierter Modelle doch Möglichkeiten der Manipulation von Lebensprozessen. So lange das gewünscht und auf andere Weise effektiver nicht zu bewerkstelligen ist, wird es "das Gen" auch morgen noch geben.
Besprochen von Susanne Billig
Staffan Müller-Wille, Hans-Jörg Rheinberger: Das Gen im Zeitalter der Postgenomik, Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
156 Seiten, 10 Euro