Genie oder Scharlatan?

Von Hans Martin Lohmann |
Mit dem Namen des Arztes und Psychoanalytikers Wilhelm Reich verbinden sich sehr gegensätzliche Einschätzungen. Während er von den einen als wissenschaftliches Genie und Wegbereiter der sexuellen Revolution gefeiert wird, sehen ihn die anderen als therapeutischen Scharlatan und Verkünder fragwürdiger Heilslehren.
Wilhelm Reich war gerade 60 Jahre alt, als er am 3. November 1957 in seiner Gefängniszelle in Lewisburg im US-Bundesstaat Pennsylvania an plötzlichem Herztod starb. Ein amerikanisches Gericht hatte ihn zu zwei Jahren Haft verurteilt, da er sich dem Verbot widersetzt hatte, ein von ihm selbst entwickeltes medizinisches Gerät von fragwürdigem therapeutischen Nutzen zu vertreiben.

Reich, 1897 als Spross assimilierter jüdischer Eltern in Galizien geboren und in einem Ort in der Bukowina aufgewachsen, durchlebte eine schwierige Kindheit, deren Konflikte ihn laut späteren Selbstaussagen nachhaltig prägten. Die Mutter beging Selbstmord, als er zwölf Jahre alt war, der Vater starb wenig später. Aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt, nahm Reich in Wien das Studium der Medizin auf.

Dort kam es bald zur Begegnung mit Sigmund Freud und der Psychoanalyse. Der Ältere erkannte rasch Reichs Begabung und öffnete ihm den Zugang zur Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, deren Mitglied er noch als Medizinstudent wurde. Reichs Interesse galt vor allem sexualwissenschaftlichen Problemen. Zugleich entwickelte er zunehmend ein Gespür zumal für die sexuellen Nöte der Jugend und gründete in den 20er Jahren die Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung, die über praktische Dinge wie Empfängnisverhütung aufklärte und Wissen über die politischen Aspekte sexueller Unterdrückung vermittelte. Freud, der den jungen Arzt zunächst förderte, musste im Laufe der Zeit erkennen, dass Reich nicht nur politisch immer weiter nach links rückte, sondern auch die psychoanalytische Technik modifizierte: An die Stelle passiven Zuhörens in der Behandlungsstunde trat mehr und mehr die Einbeziehung mimisch-gestischer, also körperlicher Äußerungen des Patienten. Reichs Tochter Eva, ihrerseits Ärztin, charakterisiert ihren Vater so:

"Reich hat sich getraut, sich umzudrehen, die Menschen anzuschauen und zu studieren mit seinen Augen während der Therapie und dann auch zu fühlen, zum Beispiel die harten Muskeln, und das nannte er Charakteranalyse oder Resistenzanalyse. Denn diese Resistenz führte einen direkt an das, was wirklich los war mit Menschen."

Im "Charakterpanzer" von Menschen, in ihrem seelisch-somatischen Verhärtetsein entdeckte Reich die Hauptquelle allen individuellen Unglücks. Indem er den Blick auf körperliche Vorgänge richtete und hier den Hebel anzusetzen trachtete, entfernte er sich immer mehr vom klassischen Vorbild Freuds. Anders als dieser predigte Reich nicht die seelische Verarbeitung, das heißt die Sublimierung sexueller Triebe, vielmehr ihr ungehemmtes Ausleben. In der orgastischen Potenz, in der Freisetzung genitaler Strebungen glaubte Reich den Schlüssel gefunden zu haben für einen erfolgreichen Kampf gegen die Neurose. Dazu sollte auch der von ihm in Berlin gegründete Reichsverband für proletarische Sexualpolitik, kurz Sexpol, dienen, in dessen Arbeit Psychoanalyse und Marxismus kurzgeschlossen werden sollten. Denn Reich vertrat inzwischen mehr und mehr die Überzeugung, dass die Befreiung der genitalen Sexualität von allen Einschränkungen und Tabus die beste Voraussetzung dafür sei, Individuen für den Kampf gegen politische Repression, gegen die bürgerliche Gesellschaft im Ganzen zu befähigen. In seiner Schrift "Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse" aus dem Jahr 1929 heißt es:

"Das Realitätsprinzip, wie wir es heute vor uns haben, ist das Prinzip der kapitalistischen bzw. privatwirtschaftlichen Gesellschaft. Es fordert vom Proletarier äußerste Einschränkung seiner Bedürfnisse, es fordert auch die monogame Sexualform und anderes mehr. […] Das Realitätsprinzip hatte früher andere Inhalte und wird sich in dem Maße wandeln, wie sich die Gesellschaftsordnung ändern wird."

Es ist kein Zufall, dass Reichs Schriften, etwa "Die Funktion des Orgasmus" von 1927 und "Der Einbruch der Sexualmoral" von 1932, von der 68er-Generation wiederentdeckt, nachgedruckt und diskutiert wurden. Gleiches gilt für seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in dem Buch "Massenpsychologie des Faschismus", das im Jahr von Hitlers "Machtergreifung", aber bereits in einem Exilverlag erschien. Wegen seiner (fraglos) radikalen Haltung wurde Reich sowohl aus der Kommunistischen Partei Deutschlands als auch aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft ausgeschlossen - ein für beide Seiten wenig rühmliches Kapitel. Als Jude, Kommunist und Psychoanalytiker dreifach gefährdet, musste er 1933 Deutschland verlassen.

Im norwegischen, später im US-amerikanischen Exil warf er sich mehr und mehr auf die Erforschung der biologischen Ursprünge des Lebens. In der Freisetzung der vitalen Energien des organischen Bios glaubte er den Weg gefunden zu haben, Krankheiten aller Art heilen zu können. Mit der Konstruktion seines Orgon-Akkumulators - eines Geräts, das die Lebensenergie speichern und zu therapeutischen Zwecken abgeben sollte - manövrierte er sich allerdings endgültig ins Abseits. Auch Albert Einstein vermochte Reichs naturwissenschaftlichen Experimenten nicht zu folgen und versagte ihm seine Unterstützung. Schließlich schritten die amerikanischen Gesundheitsbehörden ein und verboten unter dem Vorwurf der Scharlatanerie seine Bücher und den Verkauf der Apparate. Bis heute verbinden sich mit dem Namen des Arztes und Psychoanalytikers Wilhelm Reich sehr gegensätzliche Urteile, mit allen Formen der modernen Körpertherapie in der westlichen Welt jedoch bleibt er untrennbar verbunden.
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