Kampf gegen den Irrglauben
Die Verstümmelung von Mädchen ist seit Jahrzehnten grausamer Alltag in Somaliland. Der kleine Küstenstreifen im Osten Afrikas hat sich 1991 von Somalia abgespalten und erlebt auch durch Rückkehrer nun das Ende eines alten Tabus, das auf Aberglauben und Tradition gründet.
Hargeisa, die Hauptstadt Somalilands. Eine boomende und brummende Metropole, die es so eigentlich gar nicht geben darf. Schließlich wird Somaliland international nicht als Staat anerkannt. Aber seit 1991 gibt es eigene staatliche Strukturen. Damals spalteten sich die Menschen hier in Ostafrika am Golf von Aden von Somalia ab. Nach dem Sturz des Diktators Siad Barre und der Eskalation des somalischen Bürgerkrieges.
"Samo ku waar", rufen Kinder im Schulunterricht. Es sind die Anfangsworte der somaliländischen Hymne. Nicht nur das besitzt die Republik. Sie hat auch immer mehr Heimkehrer aus dem Exil, die voller Tatendrang und mit viel Geld das eigenständige Leben des Landes erhalten wollen.
Ihre Eltern waren einst Ende der 80er Jahre nach der Bombardierung Hargeisas und anderer Städte in Somaliland durch den Diktator Siad Barre ins Ausland geflohen. Nun sind sie wieder da und treffen auf junge Leute, die weg wollen aus dieser nicht anerkannten Republik. Sie sehen keine Zukunft, keine Perspektive, keine Hoffnung mehr in der geträumten Unabhängigkeit. Sie wollen nur noch weg aus diesem Land, in dem Jobs Mangelware sind und um das internationale Unternehmen und Banken einen großen Bogen machen.
Ihr Pass wird von keinem Land anerkannt. Ohne einen Zweitpass erscheint ihnen Somaliland wie ein großes Gefängnis. Doch die Rückkehrer aus dem Ausland, gerade in Hargeisa, glauben an die wirtschaftliche Zukunft des Landes und sie prägen auch immer mehr durch ihren eher westlichen Hintergrund die Politik im Land.
90 Prozent der Mädchen wurden verstümmelt
Somaliland ist ein muslimisches Land. Der Islam bestimmt den Alltag. Die Rückkehrer aus Europa und Nordamerika sind jedoch nicht so sehr von den Traditionen im Land geprägt. Das wird besonders deutlich bei einem weltweit beachteten Thema - der weiblichen Genitalverstümmelung.
Am Horn von Afrika ist davon eigentlich jede Frau betroffen. Die schlimmste Form der Genitalverstümmelung, der Typ 3, die Infibulation oder auch pharaonische Beschneidung, ist weit verbreitet. Typ 3 bedeutet, die Klitoris und die inneren und äußeren Schamlippen werden entfernt, danach alles zusammengenäht, damit nur eine klitzekleine Öffnung für den Urinfluss und die Menstruation bleibt.
Die Schätzungen besagen, dass mehr als 90 Prozent der Mädchen in dieser Region Afrikas bis zu ihrem zehnten Geburtstag verstümmelt wurden. Weltweit, so schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO, sind zwischen 220 – 250 Millionen Frauen betroffen, vor allem in den afrikanischen Ländern nördlich des Äquators.
Doch das soll sich ändern, zumindest hier in Somaliland. Genitalverstümmelung ist kein Tabu-Thema mehr, darüber wird nun offener gesprochen. In der Hauptstadt Hargeisa sieht man große Schilder, auf denen gegen die Praxis geworben wird, im Radio und Fernsehen wird das Thema in Spots und Diskussionssendungen aufgegriffen.
Frauen und auch Männer in Somaliland organisieren sich. Die erste Hürde, die sie nehmen müssen, ist die Menschen darüber aufzuklären, dass die Praxis nichts mit dem Islam zu tun hat. Das ist ihr alltäglicher Kampf, denn der Irrglaube, die Genitalverstümmelung sei im Koran verankert, ist weit verbreitet, in Afrika wie in Europa. Gerade dagegen versuchen die Aktivistinnen in Somaliland anzugehen. Und sie haben mittlerweile wichtige Mitstreiter gefunden.
Über Beschneidung steht nichts im Koran
Sheik Ahmed Abdi Horre und Jama Abdullahi sind zwei von ihnen. Die beiden Männder sind religiöse und traditionelle Führer in Somaliland. Sie sitzen im Büro von "Nagaad", einem Zusammenschluss zahlreicher Frauenrechtsgruppen.
Der Sheikh erzählt, wie er lange Zeit selbst davon überzeugt war, dass im Koran die, wie er sagt, "Beschneidung von Mädchen” vorgeschrieben sei. "Es wurde als etwas Gutes und Beschützendes für die Jungfräulichkeit eines Mädchens gesehen”, sagt er. "Es sei nur zum Besten der Mädchen und für die gesamte Gemeinschaft, das glaubten wir”, erklärt er.
Die Frauen von Nagaad hätten ihn angesprochen, den Dialog mit ihm gesucht, ihm gezeigt, dass nichts davon in der heiligen Schrift stehe. Nun sei er ein erklärter Gegner der Genitalverstümmelung, spreche darüber in den Dörfern und in Versammlungen. Jama Abdullahi, der lange Zeit still neben dem Sheikh sitzt, ergänzt:
"Ich wusste schon immer, dass es falsch ist. Denn ich sah den Schmerz und das Leid der Mädchen, die das durchgemacht haben. Aber erst viel später, als ich eine Führungsrolle in unserer Gemeinde übernommen hatte, konnte ich das auch in Worten ausdrücken und man hörte mir zu."
Das Frauen-Netzwerk Nagaad verfolgt eine Doppelstrategie. Auf der einen Seite leisten die Frauen Überzeugungsarbeit bei den religiösen Führern im Land. Ohne sie geht es nicht. Und auf der anderen Seite versuchen sie durch gezielte Projekte für Frauen im ganzen Land die Botschaft zu verbreiten, dass Genitalverstümmelung falsch ist und nicht im Koran steht, so die Präsidentin von Nagaad: Amahan Abdisalaam.
"Wenn wir den Islam korrekt umsetzen, dann haben Frauen im Islam die gleichen Rechte. Aber es wird nicht umgesetzt. Die meisten religiösen Führer legen die Texte so aus, wie es für sie passt. Und dazu kommt noch die Kultur und das patriarchische System, eine Gesellschaft in der Frauen diskriminiert werden. Aber der Islam diskriminiert nie Frauen, er hat den Frauen in den Texten die gleichen Rechte eingeräumt."
Zahl der betroffenen Frauen sinkt nur langsam
Es ist ein langer und vor allem langsamer Kampf, den die Frauen von Nagaad führen. Gespräche mit religiösen und traditionellen Führern, Lobbyarbeit im Parlament, Öffentlichkeitsarbeit so weit dies in dem Dreimillionenland möglich ist. Denn ein Großteil der Bevölkerung lebt auf dem Land, es sind Nomaden, die mit ihren Herden umherziehen.
Deshalb sinkt die Zahl der betroffenen Frauen auch nur so langsam in Somaliland. "Havayoco” ist eine Organisation, die einen ganz ungewöhnlichen Weg mit ihren Mitarbeitern geht, um das Thema Genitalverstümmelung in den Dörfern und in den nomadischen Siedlungen anzusprechen.
Mit einer Zirkusvorführung begeistern sie die Bewohner, um anschließend das ernste Thema anzusprechen. Damit, so Kamal Hassan von Havayoco, komme man ins Gespräch. Sogar eigene Lieder schreiben sie für diese Auftritte, wie dieses hier, in dem es heißt: "Genitalverstümmelung ist ein Genozid an den Mädchen, wir sind gekommen, um Euch zu sagen Stopp, Stopp, Stopp".
Unterstützt werden diese verschiedenen Projekte lokaler Organisationen wie Nagaad und Havayoco auch von internationalen Hilfsorganisationen wie CARE. Hodan Elmi arbeitet für das CARE-Büro in Somaliland. Sie selbst ist in England geboren, ist dort aufgewachsen, hat in London studiert. Vor acht Jahren kehrte sie mit ihrem Mann und ihren Kindern zurück in das Land ihrer Eltern.
"CARE und Nagaad sind davon überzeugt, dass Frauen einen wichtigen Teil in der Gesellschaft einnehmen, der repräsentiert werden muss und damit auch ihre Interessen. Die Stärkung von Frauen bedeutet auch die wirtschaftliche Förderung, und Vertrauen muss geschaffen werden und Führungsqualitäten sollen gefördert werden. Das hat dann auch Folgen für die Genitalverstümmelung. Die Stimmen der Frauen müssen gehört werden - in den normalen Entscheidungsprozessen, damit diese Praxis als negative, kulturelle Praxis bekämpft werden kann."
Die Präsidentin von Nagaad, Amahan Abdisalaam, stimmt dem zu. Auch sie führt den Kampf auf vielen Ebenen.
"Was wir machen ist, wann auch immer es ein weiteres Projekt gibt, beziehen wir auch einen Teil zur Wahrnehmung von Genitalverstümmelung ein. Auch wenn es in dem Projekt nicht darum geht. Aber wir versuchen die Frauen auf diese gefährliche Praxis hinzuweisen. Tatsache ist, in städtischen Gebieten sinken die Zahlen des pharaonischen Typs. Aber die alternative Methode, die ‚Sunna‘ nimmt zu. Nur keiner merkt wirklich, dass sie damit nach wie vor den pharaonischen Typ praktizieren."
Bei der "Sunna" wird meist die Vorhaut der Klitoris entfernt oder eingeritzt, auch ein folgenreicher und massiver Eingriff, der ebenso wenig im islamischen Glauben und im Koran begründet ist. Die Frauen von Nagaad lehnen ihn genauso ab, wie Edna Adan, die frühere Präsidentengattin, die heute die international bekannteste Kämpferin gegen die Genitalverstümmelung in Somaliland ist.
Sie hat vor ein paar Jahren ein Krankenhaus in Hargeisa aufgebaut, in dem sie auch Hebammen ausbildet. Sie nennt sie ihre "Soldaten am Boden” im Kampf gegen die Verstümmelung. Die Hebammen gehen nach ihrer Ausbildung in die Dörfer im ganzen Land, um dort zu helfen und über die Gefahren aufzuklären. Die 79-Jährige zeigt auf das Lehrbuch der Hebammen, ein Kapitel, ganz wichtig, sagt sie, sei der Genitalverstümmelung gewidmet.
Die redegewandte Seniorin weiß, dass es nicht einfach mit einem Gesetz getan ist, dass ein Verbot der Genitalbeschneidung nicht über Nacht kommen wird. Sie fordert deshalb auch die internationale Gemeinschaft auf, mehr zu tun, als nur zu sagen, dies sei ein "afrikanisches”, ein "kulturelles” Problem.
"Eine große Abschreckung wäre es, wenn wir von den Einwanderungsbehörden anderer Länder unterstützt werden würden. Die Leute hier wollen auswandern, sie wollen übers Meer, über die Berge, über den Atlantik, das ist der Wunsch von vielen. Sie riskieren sogar ihr Leben, um dort anzukommen. Doch jeder, der ein Visum haben will, der in ein anderes Land möchte, sollte zwei Zeilen im Einreiseantrag lesen müssen, nur zwei Zeilen. Und die lauten so: ‚Verstehen Sie, dass Genitalverstümmelung eine kriminelle Handlung in diesem Land ist, sei es Schweden, Deutschland oder Holland oder wo auch immer‘. Und darunter müsste es heißen: ‚Verstehen Sie, dass, wenn Sie dieses Gesetz brechen, die gesamte Familie ihren Aufenthaltsstatus verlieren kann‘. Ich sage bewusst die ganze Familie, denn das bezieht die kleinen Jungen mit ein, die Väter, die Männer der Familie. So werden nicht nur die kleinen Mädchen und die Mütter bestraft."
Die Tochter ist britische Bürgerin
Das Vereinigte Königreich ist schon einen großen Schritt weiter gegangen als dieser Hinweis im Einreiseantrag und als andere europäische Länder. Kamal Farah, der für CARE in Somaliland arbeitet, kann davon berichten. Er lebte für ein paar Jahre mit seiner Frau in England. Sie ist beschnitten. Und dort wurde ihre erste Tochter geboren.
"Nach drei Tagen kam ein Sozialarbeiter zu uns nach Hause und sagte, sie hätten vom Krankenhaus einen Bericht bekommen, dass die Mutter verstümmelt wurde und ihr bei der Geburt geholfen werden musste. Mehrere zusätzliche Schnitte mussten gemacht werden, denn auf natürliche Weise war die Geburt nicht möglich. Der Sozialarbeiter meinte zu uns, unsere Tochter sei hier geboren, damit britische Bürgerin. Nach dem Gesetz dürfe ihr das nicht angetan werden. Wir seien dafür haftbar, dass das weder in Großbritannien durchgeführt wird, noch dass wir unsere Tochter in Somalia beschneiden lassen würden."
Kamal Farah von der Hilfsorganisation CARE engagiert sich seit Jahren gegen die Genitalverstümmelung, in Somaliland und in Großbritannien, das erklärte er auch dem Sozialdienst. Überzeugend, denn die Mitarbeiter kamen nur noch einmal bei ihnen vorbei.
"Meine Tochter ist jetzt sieben Jahre alt, ich habe noch eine weitere kleine Tochter. Sie beide werden nicht das erleiden, was ihre Mutter und Großmutter erleiden mussten."
"Das ist ein schlechter Teil unserer Kultur"
Für Hodan Elmi von CARE hat der Wandel in Somaliland bereits eingesetzt. Frauenrechtsgruppen wie Nagaad, weibliche Führungspersonen in der Regierung und auch Frauen wie Edna Adan, die entschieden und sichtbar auftreten, belegen für sie, dass da etwas passiert.
"Ich glaube, wir haben eine gute Chance. Wir sind in einer guten Ausgangslage, in der Frauen in diesem Land und überall in Somalia endlich offen über das Thema reden können. Zuvor war es ein Tabu, es wurde als unzivilisiert angesehen, wenn man die Verstümmelung auch nur erwähnte. Nun gibt es Radio- und Fernsehprogramme darüber, Zeitungsartikel, wir sehen Dialoge in den Gemeinden, Stammesälteste und Männer, die Teil der Bewegung geworden sind und gemeinsam an der Seite der Frauen sagen, dass das falsch ist. Dass es ein schlechter Teil unser Kultur, nicht Teil unserer Religion ist und es geändert werden muss."
Aber das geht nicht von heute auf morgen, meint die ehemalige Präsidentengattin von Somaliland Edna Adan:
"Es gibt keinen Zauberstab. Ich glaube nicht daran, dass es mit einem Gesetz innerhalb eines Jahres oder auch nach fünf Jahren keine Genitalverstümmelung mehr gibt. Ich habe das mal geglaubt, als ich noch naiv genug war, aber nicht mehr. Es ist vielmehr wie beim Schnitzen, man hat dieses Stück Holz vor sich und schlägt Stück um Stück ab, bis man endlich die richtige Form gefunden hat."