Auf den Spuren Raiffeisens
Im Hungerwinter 1846/47 entwickelte der Sozialreformer Friedrich Wilhelm Raiffeisen die Idee der Genossenschaft. Und diese Idee ist nach wie vor erfolgreich, wie zahlreiche Neugründungen belegen. Sogar eine Schule hat sich den Ideen Raiffeisens verpflichtet.
Soeben hat es zur großen Pause geklingelt. Aus den Klassenräumen des "Raiffeisen-Campus" in Dernbach nördlich von Montabaur strömen Schüler, genauer gesagt "Lerner", denn so nennen sie sich hier, ein Hinweis auf überdurchschnittliche Motivation.
Der Westerwälder "Raiffeisen-Campus" ist das erste von drei rheinland-pfälzischen Gymnasien in genossenschaftlicher Trägerschaft, alle erst jüngst gegründet. Der elfjährige Julius steuert auf den Automaten im Flur zu und zieht einen Müsliriegel.
"Ich bin sehr zufrieden mit dem Angebot hier!"
"Und dem Preis?"
"Auch!"
"Und dem Preis?"
"Auch!"
Eine Genossenschaftsschule mit Schüler-Genossenschaft
Der Zehntklässler Johannes Großmann ist Vorstand der Schüler-Genossenschaft.
"Wir schauen jede Woche nach Angeboten und kaufen dann dementsprechend ein. Mit den Aufgaben ist das so: Wir verteilen die dann intern. Wir füllen morgens immer den Automaten auf, nachmittags oder in den Pausen können die Mitlerner bei uns dann einkaufen. Wir haben nicht den finanziellen Aspekt im Vordergrund, sondern das Menschliche, dass wir Erfahrungen sammeln, miteinander arbeiten. Wir haben uns anfangs ein Startkapital selber zusammengebaut, durch Eigenkapital, was wir selber dazu finanziert haben."
Aus Taschengeld-Beträgen, ergänzt durch elterliche Zuschüsse. Der elfjährige Julius macht auch mit.
"Ja, meine Mutter hat zwei Anteile gekauft – für mich und für meine Mutter."
Wirtschaftliche Kompetenz zu erwerben und gleichzeitig eine Leistung für die Schulgemeinschaft zu erbringen, steht dabei im Vordergrund, erläutert Schulleiter Bernhard Meffert.
"Da doppeln sich diese beiden Aspekte Friedrich Wilhelm Raiffeisens ganz konkret in der realen Schulwelt jeden Tag."
Die Genossenschaft, die den Raiffeisen-Campus 2011 gründete, besteht aus elf Mitgliedern. Ein Anteil beträgt hundert Euro. Davon finanziert sich keine Schule, gibt Jörn-Peter Kukuk zu, Genossenschaftsvorstand und Vater zweier Kinder am Raiffeisen-Campus.
"Wir sind gemeinnützig, nicht gewinnorientiert. Zum einen gibt es freiwillige Spenden der Eltern, die sich monatlich in einer durchschnittlichen Größenordnung von 190 Euro bewegen. Dann gibt es, nachdem wir mittlerweile staatlich anerkannt sind, auch finanzielle Unterstützung des Landes Rheinland-Pfalz. Und dann haben wir sehr viele Privatleute, Unternehmen, die Stipendien für Kinder übernehmen, die eine durchschnittliche Spende nicht leisten können. Wer wie viel spendet, das ist nur dem Vorstand bekannt – und sonst weiß das keiner."
Mit Hilfe von Tests und Aufnahmegesprächen werden lernwillige Talente ausgewählt.
Mit dem Scheckbuch wedeln zwecklos
Kinder von Genossenschaftern werden nicht bevorzugt, und wer mit dem Scheckbuch wedelt, bekommt die kalte Schulter gezeigt, versichert Direktor Meffert. Die drei kargen Jahre bis zur staatlichen Anerkennung und Förderung durch das Land Rheinland-Pfalz im Jahr 2014 überstand die Schule mit Hilfe von Darlehen unter anderem der genossenschaftlichen Zentralbank.
Vorzugszinsen gibt es auch unter Genossen nicht, stellt Vorstand Jörn-Peter Kukuk klar - aber ein besonderes Vertrauensverhältnis, das das Gründungswagnis ermöglichte.
"Das heißt, die Darlehen sind sicherlich nicht zu 100 % abgesichert gewesen in der ersten Phase, und damit ist man natürlich auch mit ein Risiko eingegangen. Das steigert natürlich auch die Verpflichtung derjenigen, denen das Vertrauen geschenkt wird, dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen, und wir sind sehr froh, dass uns das bisher gelungen ist. "
Martina Düring gründete die Schule vor sechs Jahren mit und investiert als Genossenschaftsvorstand immer noch viele Stunden ehrenamtlicher Arbeit. Die Marketing-Fachfrau gehört nicht zur Elternschaft und umschreibt ihre Motivation so:
"Ich werde kein neues Mittel gegen Krebs entdecken, ich werde nicht Frieden in die Welt bringen. Aber wenn wir in dieser Schule Kinder gut ausbilden, und wenn wir wirklich alles geben, um den Kindern die beste Bildung zu ermöglichen, wird vielleicht eines dieser Kinder die Zukunft positiv beeinflussen. Und so hab ich das Gefühl, ich hab einen Beitrag geleistet, der wirklich einen Unterschied machen kann."
Der Nutzen für den Westerwald:
"Es gibt hier in der direkten Umgebung außer dem Landesmusik-Gymnasium kein Ganztagsgymnasium, und deshalb haben wir dieses Angebot gemacht. Viel wichtiger war uns aber, dass wir unsere Philosophie, die hinter der Schule steht, den Gedanken Friedrich Wilhelm Raiffeisens 'Wir statt ich', dieses Gefühl 'was man alleine nicht schafft, das schaffen viele', den Kindern zu vermitteln. Den Kindern zu vermitteln, wie wichtig Teamgeist ist."
Gelebt wird das Wir-Gefühl unter anderem in der Schuluniform, bestehend aus verschiedenen Jacken, Polo- und Sweatshirts, so dass die Schüler - bis auf das Logo des Raiffeisen-Campus - alle unterschiedlich gekleidet aussehen.
Die Uniform heißt "Pluriform"
"Das heißt bei uns gar nicht Uniform, sondern 'Pluriform', weil wir halt mehrere Sachen haben, und das finde ich eigentlich ziemlich gut, da kann man sich sein Lieblingsteil wählen."
Banuja trägt eins mit Kapuze. Die zielstrebige13-Jährige tamilischer Muttersprache kam mit ihren Eltern vor einigen Jahren aus Sri Lanka nach Deutschland und will "in die Medizin". Die Schulkleidung mag sie auch aus einem weiteren Grund:
"Zum Beispiel an anderen Schulen kann man halt leicht geärgert werden, wegen der Qualität und so - und das gibt es an unserer Schule eigentlich gar nicht."
Derzeit hat das Gymnasium nördlich von Montabaur 280 Schüler, zum Schuljahreswechsel 2019 sollen es 420 sein. Klein genug, um regelmäßige Schulversammlungen abzuhalten. Und zwar im sogenannten "Forum": der großzügige helle Raum ist Aula, Pausenhalle und Wohnzimmer zugleich. Neben kritischen Aussprachen steht da immer auch eine Lob-Runde auf dem Programm, in der jeder über jeden – ob Lehrkraft oder Lernenden - etwas Positives sagen kann.
Banuja kam auch schon mal in den Genuss. Hervorgehoben wurde ihr freiwilliges Engagement am schulfreien 3. Oktober:
"Da waren wir halt in der Bank und da haben wir Kindern, die jünger sind als wir, erklärt - halt die Automaten und die verschiedenen Stellen an der Bank."
Sich finanziellen und wirtschaftlichen Sachverstand anzueignen, macht mündig, so einer von Raiffeisens Grundgedanken, und wenn sich mündige Bürger zusammentun, erzielen sie einen Mehrwert für die Gemeinschaft. Der Genossenschaftsgründer - ein christlicher Sozialreformer.
Zu dieser Wertebasis bekennt sich auch der Raiffeisen-Campus. Getrennt konfessionell erteilter christlicher Religionsunterricht als Pflichtfach ist aber nicht exklusiv gemeint, stellt Schulleiter Meffert klar.
"Es gibt zahlreiche Eltern - nicht getaufte, muslimische, buddhistische Eltern, die sagen, die Form von Religionsunterricht, die ihr hier anbietet, ist integrativ, sie versucht nicht, Menschen von einem anderen Glauben zu überzeugen. Und letztlich haben wir durch dieses Modell einen doppelten Filter: Wir schließen Fundamentalisten jeglicher Couleur aus. Denn sowohl ein christlicher Fundamentalist als auch ein anderer Fundamentalist würde diese liberale, offene, weltoffene, zugewandte menschliche Haltung, die wir mit einem klaren Wertefundament unterlegen, nicht goutieren. Und so haben wir hier Menschen, die mit einem liberalen Geist hier hinkommen, egal welcher Religion sie persönlich angehören."
Das englisch bilingual und digital arbeitende G-8-Gymnasium ist leistungsorientiert. Deutlicher als andere Gymnasien zielt der Raiffeisen-Campus auf eine akademische Laufbahn.
"Und wenn Sie heute die Wirtschaft fragen, welche Führungskräfte gesucht werden, dann sind das keine Egomanen. Das sind keine Menschen, die brillant sind, aber auf Kosten anderer. Sondern es wird genau das gesucht, was wir eigentlich auch heranbilden wollen: Menschen, die teamfähig sind, die nicht über Leichen gehen, sondern die schauen, dass das Team erfolgreich ist. Ich glaub', das schaffen wir ganz gut",
bilanziert der Gymnasialdirektor. Unumstritten ist das Privatgymnasium nicht, "FDP-Schule" für Reiche nennen es manche mit abfälligem Unterton, andere verwechseln die Genossenschaftsidee mit Sozialismus. Doch Schüler aus sieben Landkreisen im Norden von Rheinland-Pfalz nehmen teilweise weite Wege auf sich, um das familiäre Gymnasium zu erreichen.
Vertrauteres Verhältnis zu den Lehrern
Wenn die 14-jährige Anna mit Gleichaltrigen anderer Schulen spricht, fällt ihr als Unterschied auf:
"Dass wir ein vertrauteres Verhältnis zu unseren Lehrern haben und unsere Lehrer auch so machen lassen, wie wir es … halt unsere Arbeitsmethoden selber entwickeln lassen. Und an anderen Schulen wird das meistens vorgegeben, und ich find' das halt ziemlich blöd. Zum Beispiel, wenn wir ein Referat halten sollen und einer, der nicht gern vorne steht, dann sagt der 'ich will eine Ausarbeitung schreiben'. An anderen Schulen wird gesagt, 'du musst ein Referat halten'. An unserer Schule wird gesagt, 'dann schreibst du halt ne Ausarbeitung'. Da wird man halt individualisiert."
Als Einzelne ernstgenommen, meint die Achtklässlerin - so wie im Mentoren-Gespräch, das Lehrkräfte regelmäßig mit Oberstufenschülern führen, die sie selbst nicht unterrichten. So ein Gespräch steht bei Bernhard Meffert als nächstes auf dem Programm. Der Schulleiter engagiert sich auch in der Raiffeisen-Gesellschaft dafür, die genossenschaftliche Idee zu propagieren.
Die Raiffeisen-Orte im Westerwald– Pilgerstätten für Japaner
Dass die UNESCO sie neuerdings zum Welterbe erkor, weckt Hoffnungen, die grüne Wanderregion Westerwald künftig auch als Raiffeisen-Land bekannter machen zu können.
"Wir haben zum Beispiel sehr viel Besuch aus Japan", erzählt Wolfgang Ebisch, Direktor des Raiffeisen-Museums im Geburtshaus des Westerwälder Sozialreformers in Hamm an der Sieg. Das 3.300-Einwohner-Dorf liegt an der Landesgrenze zwischen Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen.
"Die Besucher, die herkommen, sind meistens so ländliche Genossenschaften, die steigen dann in Tokio in den Flieger, fliegen nach Frankfurt, setzten sich in den Bus und fahren nach Hamm, das ist also das direkte Ziel. Das ist also schon beeindruckend."
In Hamm an der Sieg kam Friedrich Wilhelm Raiffeisen 1818 zur Welt. Raiffeisens Geburtshaus zählt neben seinem kaum 30 Kilometer entfernten Bürgermeisteramts- und Wohnhaus in Flammersfeld zu den Wallfahrtsorten für Genossenschaftsfans aus Österreich, der Schweiz und den Niederlanden, vor allem aber aus Japan. Japanische Pilger schreiben alles mit, fiel Bernhard Meffert auf, als er eine englischsprachige Führung in Flammersfeld übernahm. Und:
"Da war so eine gespannte, fast andächtige Atmosphäre. Und da ist mir was klar geworden: Wir haben im Westerwald den Friedrich Wilhelm Raiffeisen Jahrzehnte lang nicht mehr wirklich so wahrgenommen, wie das Menschen tun, die von weit her kommen. Die wissen, dass diese Idee so wertvoll ist, dass man ihr mit Respekt begegnen sollte."
"Salutations to Mahatma Raiffeisen" hat ein indischer Genossenschaftsbanker ins Gästebuch des Museums in Hamm geschrieben.
"Raiffeisen hätte ganz bestimmt keine Personenverehrung gewollt, war eher ein ganz bescheidener Mensch - seine Lebensweise, selbst seine Ernährung, so wissen wir, war sehr asketisch. Und trotzdem sollten wir uns insofern ein Beispiel daran nehmen, dass die Idee, die Friedrich Wilhelm Raiffeisen mit anderen gemeinsam hatte, dass die es wirklich wert ist, dass man der mit Respekt begegnet."
Raiffeisen und Marx trennen Welten
Auch und vor allem 2018, wenn 200 Jahre Raiffeisen mit 200 Jahren Karl Marx zusammenfallen. Der im Grunde konservative Sozialethiker aus dem Westerwald, der Verwaltung gelernt hatte, und der studierte Trierer Philosoph kannten sich nicht. Den Helden der Genossenschafter und den Protagonisten der Arbeiterbewegung trennen Welten.
Dabei verließ Raiffeisen seine bäuerliche Umgebung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und befasste sich als Bürgermeister von Heddesdorf bei Neuwied auch mit den Nöten der dort ansässigen Stahl-Arbeiter im preußischen Staat.
Der ehrenamtliche Museumsführer Albert Schäfer hat indes das Raiffeisen-Haus in Flammersfeld aufgeschlossen.
"Ja, hier oben wohnte dann die Familie, das waren die Schlafräume."
Unten lenkte Raiffeisen das Dorf und heckte weitere Pläne zur gemeinschaftlichen Selbsthilfe und Selbstverwaltung aus. Der Regionalforscher Albert Schäfer ermöglicht einen Blick auf das Stehpult von Bürgermeister Raiffeisen. Und einen Einblick in dessen Ideenwelt. Die Arbeiterbewegung beschäftigte den preußisch-protestantischen Reformer vor allem nach dem Weggang von Flammersfeld ins städtische Neuwied.
"Er sah diesen Staat bedroht durch die Tendenzen der damaligen Zeit. Er bezeichnete Kommunisten, Sozialisten und bemerkenswerterweise auch die Sozialdemokraten einheitlich als 'Umsturzpartei'. Er fürchtetet also, wenn dem Arbeiter, dem mittellosen Arbeitsmann, die Existenz nicht gegeben wird, dass er dann anfällig wird für die 'Verführungen', er spricht von 'Verführungen' dieser drei Gruppen."
Der eine, Raiffeisen, sah den Staat als eine Art gottgegebener Ordnung, die es mit Hilfe von Reformen zu bewahren galt. Der andere, Marx, betrachtete den Staat als Machtwerkzeug der herrschenden Klasse. Der eine fürchtete den Umsturz, der andere forcierte ihn. Posthum konkurrieren ihre Jubiläen.
Dass der 200. Geburtstag des wohl einflussreichsten deutschen Staatsphilosophen nicht nur an dessen Geburtsort Trier zelebriert und mit Millionen Landesgeld unterstützt wird, steht längst fest.
"Er schrieb nicht das Kapital, er nahm es in die Pflicht"
Genossenschafts-Anhänger sorgen sich indes, dass im Marx-Jahr 2018 die Aufmerksamkeit und die Mittel fehlen, um auch den christlichen Sozialreformer Raiffeisen gebührend zu feiern. "Er schrieb nicht das Kapital, er nahm es in die Pflicht", heißt es auf ersten Werbeprospekten fürs kommende Raiffeisen-Jahr. Bernhard Meffert gehört dem Kuratorium der Raiffeisen-Gesellschaft an.
"Na ja, wir, die wir für Raiffeisen einstehen, stellen einfach fest, das Kapital in die Pflicht zu nehmen statt es in Anführungsstrichen nur zu verdammen, halten wir für die nachhaltigere Strategie, und - ganz ehrlich: Uns gibt's noch, und die Ideen von Karl Marx sind nach wie vor relevant, geistesgeschichtlich, aber haben doch im heutigen Deutschland weniger Wirkung entfaltet."
Die Genossenschaft lebt - in den expandierenden Handelsriesen Edeka und Rewe. In Volks- und Raiffeisenbanken, die nicht zockten und die Finanzkrise ohne staatliche Stütze überstanden. Wohnungsbau-Genossenschaften errichten Null-Energie-Häuser - auch für generationen-übergreifendes Zusammenleben.
Solar- und Windkraft-Genossen halten an Öko-Stromerzeugung und regionaler Wertschöpfung fest, auch wenn die Energiewende teilweise politisch ausgebremst wird. Ein Drittel der Weinanbaufläche wird genossenschaftlich bewirtschaftet, weiß Wolfgang Ebisch.
"In Mayschoss an der Ahr war die erste Winzergenossenschaft der Welt entstanden, auf sein Anraten hin", und Raiffeisen könnte stolz auf die Genossen aus dem rheinland-pfälzischen Ahrtal sein, denn sie fahren Preise für edelste Tropfen ein.
Gärtner und Ökobauern bundesweit lösen das Problem der teuren Bodenpreise, indem sie sich zusammen tun. Gestresste Landärzte gründen Gemeinschaftspraxen. Bürger übernehmen Schwimmbäder und Theater, wenn die Kommune pleite ist. Zuweilen auch die Jugendherberge oder den Dorfladen, wenn sich kein Investor findet.
20 Millionen Deutsche sind Genossenschafter, 800 Millionen weltweit. Drei reichen, um eine Genossenschaft zu gründen.
Von der Ich-AG zur Wir-e.G.
Auch die Mainzer Thomas Hahner und Lena Weissweiler haben das getan. Die beiden Unternehmer – sie Design, er Software - führen nicht ihre eigene Firma genossenschaftlich, sondern haben sich mit vier Unternehmen und 30 Einzelpersonen zur Genossenschaft "Synthro" zusammengeschlossen.
Im Namen stecken die Begriffe Synergie, gemeinschaftlicher Nutzen. Und Anthropologie: die Wissenschaft vom Menschen als selbstbestimmtem Individuum. Die Genossenschaft - für innovationshungrige Städter alles andere als ein Instrument zur Nothilfe.
"Es ist das Gefühl dahinter, hier was zu gestalten, was aufzubauen, was es so auch in der Form noch nicht gibt", erklärt Lena Weissweiler ihr Motiv: Unternehmergeist gewissermaßen zu vervielfältigen – im Austausch zwischen jungen und etablierten kreativen, sozialen oder technischen Talenten.
In einem neuen Quartier auf altem Bahngelände hinterm Mainzer Hauptbahnhof ist eine moderne, lichtdurchflutete Arbeitswelt in sanierten Backstein-Güterhallen entstanden.
An diesem Abend sitzen Weissweiler und Hahner mit anderen Genossen, Mietern und Kunden bei Kürbissuppe und Glühwein an langen Holztischen im "Open Space", dem großzügigen Gemeinschaftsraum mit riesigem weißen Küchenblock. Sie feiern den Erfolg von Synthro. Vor einem Jahr zog Thomas Hahner mit seiner Software-Firma ins Obergeschoss – da war die einstige Warenannahme der Bahn noch Baustelle.
Inzwischen gibt es im Untergeschoss ein kurzfristig buchbares Raumangebot für 50 flexibel Arbeitende, vom Einzelschreibtisch bis zum Mini-Büro, mit Seminar- und Konferenzräumen und der Genossenschafts-Wohn-Küche in der Mitte. Um sich im sogenannten Co-Working M1 einzumieten, muss man kein Genosse sein und keinen 500-Euro-Anteil erwerben, stellt Thomas Hahner klar.
"Worauf wir – glaube ich - ziemlich stolz sind, ist, dass wir innerhalb eines Jahres es geschafft haben, in schwarze Zahlen zu kommen. Das heißt, Büros sind vermietet, Veranstaltungen sind gebucht und die Co-Worker sind alle da, und es ist warm und wir haben Internet, und wir haben Kaffee und Wasser, das ist alles, was wir brauchen."
Damit wie von selbst immer neue Ideen entstehen, zum Beispiel: Könnte man die Firma, die gemeinsam mit Flüchtlingen Streetfood kocht und vermarktet, zum Catering-Unternehmen ausbauen? Oder jemand sagt:
"Ich find', wir bräuchten so'n Foto-Studio, was man sich stundenweise mieten kann. Und dann hat der also angestoßen, hier ein Crowd-Funding zu machen, mit dem Ziel, von dem Geld ein Foto-Studio einrichten zu können. Und die Leute, die spenden, die können dann sukzessive Gutscheine bekommen, dieses Studio hier zu nutzen. Einfach diese Plattform, wo Sachen entstehen können, und davon ein kleiner Teil zu sein, das begleiten zu können, ganz nah dran zu sein, das finde ich das Schöne."
Inspiration für kreative Start-ups und etablierte Gründer
Als sie vor zehn Jahren ihre Design-Firma im WG-Zimmer gründete, fehlte Lena Weissweiler genau das: buchbare Räume für Kundenbesuche. Und das Angebot, Buchhaltung und IT-Services auszulagern. Thomas Hahner hat damit sein etabliertes Software-Unternehmen auf die Kerndisziplin reduziert.
"Wir haben nur noch Entwickler und wir haben Verkaufsmitarbeiter. Wir haben keine Verwaltung mehr und keine Buchhaltung, sondern wir nutzen die Infrastruktur der Genossenschaft und bezahlen an die Genossenschaft für die Leistung, die sie uns zur Verfügung stellt und etablieren dadurch einen Standard, der mittlerweile auch von zwei anderen Unternehmen genutzt werden kann. Das heißt, ich profitiere dadurch, dass ich sehr, sehr flexibel geworden bin."
In Vorleistung ging sein Unternehmen, indem es - wie bei Synthro für Firmen vorgeschrieben – zehn Genossenschaftsanteile für insgesamt 5000 Euro erwarb. Das auch mit Hilfe einer Genossenschaftsbank geschulterte Risiko, einer Bahn-Tochter 5000 Euro Monatsmiete für den Büro-Komplex zu überweisen, ohne zu wissen, wann die Räume ausgebucht sein würden, hat sich für die 34 Genossen ausgezahlt.
Das Unternehmenskonzept musste dem Genossenschaftsverband vorgelegt werden.
"Das ist eigentlich eine ganz tolle Infrastruktur, die da zur Verfügung steht: Die haben Rechtsanwälte, Steuerberater, die das Geschäftsmodell prüfen, und erst, wenn die gesagt haben, das ist ein tragfähiges Konstrukt, dann kann ich zum Notar laufen und mich eintragen lassen."
Dass Genossenschaften kaum je pleitegehen, schreibt der Verband auch der genauen Vorab-Prüfung zu.
Genossenschaft rettet ältestes Haus Landaus
Vor zehn Jahren wurde das Genossenschaftsgesetz novelliert, seither ist es möglich, gemeinnützige Genossenschaften für soziale und kulturelle Zwecke zu gründen. In Landau tat das 2015 eine Gruppe ehrenamtlicher Denkmalschützer. Die sogenannten "Freunde des Hauses zum Maulbeerbaum" hatten seit 2011 darum gekämpft, Landaus vermutlich ältestes und stadtgeschichtlich wichtigstes Haus zu erhalten.
Ein Investor für die 300 Jahre alte abrissbedrohte Herberge zum Maulbeerbaum fand sich nicht. Jetzt will die Genossenschaft selbst in die Rolle des Finanziers schlüpfen.
Blick durch den Torbogen schräg gegenüber der Landauer Stiftskirche: Ein Gerüst, ein Bauzaun, ein grünes Netz vor der Fassade und gelbe "Betreten verboten!"-Schilder – Landaus größter städtebaulicher Schatz präsentiert sich verhüllt. Seit dem Mittelalter ist die Geschichte des "Maulbeerbaums" dokumentiert. Im 15. Jahrhundert ging der mittelalterliche Adelshof von kirchlichem in städtischen Besitz über.
"Also, es war damals bekannt, dass das 'Haus zum Maulbeerbaum' die Nobelherberge war."
Michael Zumpe ist Vorstand der gemeinnützigen Genossenschaft, die bislang 142 Mitglieder aus der Pfalz, aus Baden und eines sogar aus Kalifornien für die Rettung der historischen Stätte mobilisiert hat, darüber hinaus Spender und Sponsoren. Mühsam entziffert Zumpe die Tafel seitlich des Eingangs:
"1522 schloss hier die Ritterschaft von Franken, Schwaben und vom Rhein unter dem Vorsitz des Franz von Sickingen den Landauer Bund."
Im "Maulbeerbaum" trafen sich Luthers aufmüpfige Anhänger
Den Protest gegen Fürsten und Klerus koordinierten die Ritter hier, befeuert von den emanzipatorischen Lehren Martin Luthers. Ende des 17. Jahrhunderts fiel das "Haus zum Maulbeerbaum" dem großen Landauer Stadtbrand zum Opfer, wurde aber kurz danach wieder aufgebaut, mit einem Treppenturm, der noch Renaissance atmet.
Im Saal des Obergeschosses wurden 2003 Fresken aus dem 18. Jahrhundert entdeckt. Weitere Untersuchungen bestätigten unlängst, dass die Ornamente und Verse aus der Lutherbibel einmalige Kunstschätze sind. Gemalt möglicherweise anlässlich des Reformations-Jahres 1717, als sich der Wittenberger Thesenanschlag zum 200. Mal jährte.
Auch Neues wurde gefunden, so die Landauer Architektin Sonja Behrens, ebenfalls vom Genossenschafts-Vorstand.
"Diese Rose, die jetzt freigelegt wurde – da wird spekuliert, ob es eine Luther-Rose ist – das heißt, wir haben diese ornamentalen Malereien, mit Rosen, mit Ranken, mit Voluten und dazwischen die Felder mit den Bibel-Sprüchen."
Wie dem Vers aus Psalm 109, der in der Luther-Bibel heißt: "Sie reden giftig wider mich allenthalben …"
"und streiten wider mich – ohn' Ursach' – schöner Spruch, ja."
Findet Michael Zumpe. Solche Ornamente und Kalligraphie sind nur selten außerhalb von Kirchen erhalten.
Das rief den Bund als Finanzier auf den Plan. Bis zu 300.000 Euro will der dem "Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung" zuschießen. Die Stadt Landau macht in den kommenden drei Jahren 600.000 Euro locker, um den maroden Bau zu stabilisieren. Damit ist die Abriss-Drohung vom Tisch - rechtzeitig zum Beginn des Luther-Jahres 2017.
Immaterielles und materielles Kulturerbe aufs beste vereint
Ideen für eine Nutzung, die den bestmöglichen Erhalt der Bausubstanz sichert, hat die Genossenschaft längst entwickelt. Das Haus zum Maulbeerbaum müsse sich selbst tragen, erklärt Sonja Behrens.
"Und angedacht sind zum Beispiel Wohnungen für ausländische Studierende in Kooperation mit der Uni Landau oder dass die Büros einzeln an Existenzgründer vermietet werden. Auch das gibt es in Landau nicht, und es besteht durchaus schon Interesse daran."
Genossenschafts-Vorstand Zumpe hofft, dass bald der Zeitplan für die Zuschüsse steht.
"Wenn wir den Zeitpunkt und den Umfang der Gelder kennen, die von öffentlicher Seite bereitgestellt werden, dann können wir loslegen."
Nämlich das "Haus zum Maulbeerbaum" von der Stadt übernehmen, sanieren und bewirtschaften. Dafür weitere Genossen und Sponsoren anwerben. Und so dem einzigartigen Baudenkmal und der gemeinwohl-orientierten Idee Raiffeisens neues Leben einhauchen. Alles sieht danach aus, als komme es im südpfälzischen Landau zur perfekten Verbindung von immateriellem und materiellem Kulturerbe.