Sprecher: Rosario Bona
Ton: Christoph Richter
Regie: Roman Neumann
Redaktion: Constanze Lehmann
Produktion Deutschlandfunk Kultur 2019
Die Potenziale einer unterschätzten Rechtsform
28:06 Minuten
Selbstständige, die sich zusammenschließen. Mitarbeiter, die Eigentümer sind, und mitbestimmen. Das Genossenschaftsmodell fristet noch ein Nischendasein. Aber es birgt viele Potenziale – auch um Missständen in der Wirtschaft und Arbeitswelt zu begegnen.
Ein windiger Herbstmorgen in Büsum, an der Nordsee. Gerade ist Ebbe, das Meer hat sich vom Ufer zurückgezogen. Kleine Menschengruppen staksen verstreut durchs Watt. Währenddessen, nur zwei Parallelstraßen vom Deich entfernt, herrscht im Ärztezentrum bereits reger Betrieb.
"Der Nächste bitte! "
Dass es in Büsum überhaupt noch Hausärzte gibt, liegt am gemeinsamen Engagement der Gemeinde – und einer Genossenschaft.
Arzt: "Morgen."
Patient: "Morgen."
Arzt: "Herr Friedrich, wie geht’s? Operation gut verlaufen?"
Patient: "Ja. Alles soweit gut."
Patient: "Morgen."
Arzt: "Herr Friedrich, wie geht’s? Operation gut verlaufen?"
Patient: "Ja. Alles soweit gut."
In einem Behandlungszimmer sitzt Herr Friedrich, Taxifahrer aus dem Ort. An der Liege lehnen seine Krücken. Er ist am Vortag im Krankenhaus der Kreisstadt Heide am Knie operiert worden. Sein Hausarzt, Dr. Staats, schaut sich die Wunde an, eine Praxis-Angestellte verbindet sie neu. Es sieht alles zufriedenstellend aus.
"Ich sag‘ mal, wenn du hierherkommst, wirst du gut behandelt. Also, hier sind ausreichend Ärzte. Das Einzige, was jetzt fehlt in Büsum, sind wohl, na, ich sag‘ mal Frauenarzt, Hautarzt, so was. Aber das kannst du hier alles nicht unter, wo willst du das hinmachen, nä? Ja. Ansonsten fühlt man sich hier eigentlich von den Ärzten her gut betreut", sagt Patient Friedrich.
Genossenschaft und Kommune sichern Hausarztversorgung
"Wir wollen mit unseren Aktivitäten Versorgung aufrechterhalten oder vielleicht an der einen oder anderen Stelle sogar verbessern", sagt Thomas Rampoldt, Geschäftsführer der Ärztegenossenschaft Nord. Sie hat aktuell etwa 1800 Mitglieder – sowohl niedergelassene Mediziner als auch angestellte Ärzte aus Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Rampoldt ist zugleich Geschäftsführer des Ärztezentrums in Büsum, das er im Auftrag der Gemeinde managt. "Wir sind hier 2014 in das Projekt gestartet. Zum damaligen Zeitpunkt waren hier fünf Hausärzte tätig. Das Durchschnittsalter der Hausärzte betrug 63 Jahre. Das heißt, man kann sich ausrechnen, da war der eine oder andere schon Richtung 70 unterwegs."
Und alle hatten Nachfolgeprobleme. Deswegen waren sie froh, dass die Ärztegenossenschaft ihre Praxen übernehmen und ein neues Zentrum errichten wollte, im Eigentum der Kommune, die die Genossenschaft mit ins Boot geholt hatte. Das alte Gebäude wurde kernsaniert, und die Gemeinde stellte neue Hausärzte bei sich an. Für Thomas Rampoldt ist dies das beste Modell, um die medizinische Versorgung auch auf dem Land sicherzustellen. Im Gegensatz zu privaten Investoren im Gesundheitssektor.
"Eine Kommune will die Bevölkerung versorgen. Da muss man auch keine Angst haben, dass eine Kommune zu einer Heuschrecke wird oder was man auch immer diskutiert in anderen Bereichen. So dass tatsächlich für uns Kommune, wenn es um Gesundheitsversorgung geht, der ideale Partner ist."
Es geht bei der Ärztegenossenschaft Nord aber nicht nur um die medizinische Versorgung auf dem Land. Die Organisation schließt zum Beispiel für ihre Mitglieder eigene Verträge mit Krankenkassen ab – und kann hier deutlich mehr Verhandlungsmacht einbringen, als sie einzelne Ärzte hätten. Das mache die Unternehmensform Genossenschaft generell attraktiv, findet Thomas Rampoldt.
"Als wir anfingen vor 20 Jahren, war es tatsächlich so, dass Genossenschaften noch ein relativ verstaubtes Image gehabt haben. Das hat sich in den letzten Jahren aber deutlich gewandelt, Genossenschaft ist wieder modern. Es gibt durchaus viele Start-up-Unternehmen, die den Genossenschaftsgedanken aufgegriffen haben und die Genossenschaft als Rechtsform für sich gewählt haben. Und das ist schon ganz spannend, zu sehen, wie sich das Genossenschaftswesen so entwickelt."
Genossenschaften: vielfältiges Nischenphänomen
"Seit gut zehn Jahren gibt es einen deutlichen Anstieg der Gründungsaktivität, der sich außerdem in weiten Teilen auch außerhalb der traditionellen Bereiche abspielt, also außerhalb von Banken, Agrar, Handel, Wohnen", beobachtet der Genossenschaftsforscher Clemens Schimmele.
Die neuen Beispiele sind Energiegenossenschaften, Dorfläden, Sozialgenossenschaften. Es kann aber auch ein Projekt sein, wie es Clemens Schimmele gerade plant. Er hat an der Universität Köln das Genossenschaftswesen wissenschaftlich erforscht. Jetzt, nach der Promotion, ist er gerade dabei, eine eigene Genossenschaft zu gründen, eine digitale Plattform, die über eine App Putzkräfte zu fairen Konditionen vermitteln soll.
Alles in allem sind solche Neugründungen allerdings weiterhin ein Nischenphänomen geblieben. Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes standen 2017 gerade einmal 217 neuen Genossenschaften 64 000 GmbHs gegenüber. Woran liegt das? Clemens Schimmele verweist auf repräsentative Umfragen, die zeigen, dass die Rechtsform bei den Deutschen relativ unbekannt ist – und wer etwas darüber wisse, habe oft verzerrte Vorstellungen.
"Manche denken eher an irgendwelche Revoluzzer-Hippies, wenn sie Genossenschaft hören, oder an sozialistische Apparatschiks, andere denken eher an konservative Landwirte. Die Wahrheit ist, dass beides geht und alles dazwischen. Und was im Einzelfall dabei herauskommt, hängt halt davon ab, wie man’s selbst gestaltet. Aber auf die Idee, es zu gestalten, muss man erst mal kommen, und das tut man eben nicht, wenn man die Werkzeuge dafür nicht kennt. Dann macht man im Zweifel einfach das, was alle machen, also meist GmbH oder Verein, oder gründet gar nicht."
"Wenn ich da an die Handelskammer denke, da rege ich mich also immer wieder drüber auf, wenn die über Unternehmensformen berichten, auch in ihrer Zeitschrift, dann kommt die Genossenschaft da überhaupt nicht drin vor", sagt Holger Martens, promovierter Geschichtswissenschaftler, Gründer, Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer der Historiker-Genossenschaft.
"Auch in der Genossenschaftswissenschaft wird eigentlich immer davon gesprochen, dass die Genossenschaftsidee ein großes Problemlösungspotenzial hat – so sind ja viele Genossenschaften mal entstanden, also von der Volksbank bis zu den Wohnungsbaugenossenschaften –, aber dieses Potenzial wird überhaupt nicht genutzt, weil diese Unternehmensform kaum bekannt ist und auch von den entscheidenden Stellen, wie zum Beispiel Handelskammer, überhaupt nicht empfohlen wird und man das auch überhaupt nicht im Portfolio hat sozusagen, dass es so etwas gibt."
Historikergesellschaft hat volle Auftragsbücher
"Ich hätte so gerne auch ein Kaffee."
Zu Besuch bei der Historiker-Genossenschaft in Hamburg. Neun Geschichtswissenschaftler drängen sich ins Büro von Holger Martens, um bei Kaffee und Kuchen die derzeit laufenden und in Kürze anstehenden Projekte zu besprechen.
"Hallo Andrea. Setz dich doch. Ja. Schön, dass du auch da bist, Kai…", begrüßt Holger Martens die Anwesenden.
Die Historiker-Genossenschaft übernimmt im Auftrag von Unternehmen, Vereinen, Genossenschaften und anderen Organisationen aufwendige Recherchen. Arbeitet sich also tief in die Geschichte ihrer Auftraggeber ein, und verfasst historische Studien, Dokumentationen, Chroniken oder auch Jubiläumsschriften.
"Als weiteren Auftrag haben wir jetzt auch gerade diese Woche bekommen von der Hamburger Wohnungsbaugenossenschaft Hamburger Wohnen, auch da wird es Dokumentationen geben. Dann ist da vereinbart, zur NS-Zeit und zu Personen aus dieser Zeit besondere Recherchen durchzuführen..."
Aktuell zählt die 2011 gegründete Historiker-Genossenschaft sieben Mitglieder, die je nach eigenem Wunsch, entweder sozialversicherungspflichtig angestellt oder freiberuflich auf Honorarbasis für die Genossenschaft arbeiten. Martens, als Geschäftsführer, kümmert sich vor allem um die Akquise der Aufträge und organisiert die Arbeit. Immer wieder benötigt er zusätzliche Kräfte. Derzeit beschäftigt die Genossenschaft auch zwei Nichtmitglieder, um das Auftragsvolumen zu stemmen.
"Wir haben also von der Wohnungsbau-Genossenschaft am Vorgebirgspark in Köln den Auftrag bekommen, und da alle Genossenschaftsmitglieder ja restlos ausgelastet sind, haben wir glücklicherweise Frau Meyer gefunden, die das bearbeitet."
Die Idee, eine Genossenschaft für Historiker zu gründen, entwickelte Martens im Anschluss an die Anfertigung einer Jubiläumsschrift für eine Wohnungsbaugenossenschaft. Damals hatte er verschiedene Zeitverträge als Uni-Dozent und arbeitete zusätzlich freiberuflich als Historiker.
"Und jeder, der mal freiberuflich tätig war, der weiß, wie so etwas läuft: Man muss sich erst mal um Aufträge bemühen, alles Mögliche in Gang setzen, dann hat man die Aufträge, dann hat man eigentlich viel zu viel zu tun und schafft das vielleicht gar nicht alles, müsste sich aber eigentlich schon wieder um die nächsten Aufträge kümmern, weil sonst hat man ja wieder das berühmte Loch, in das man fällt. Und da andere Kolleginnen und Kollegen das gleiche Problem hatten, war eigentlich die Idee, wieso schließt man sich nicht zusammen und arbeitet eben gemeinsam Aufträge ab und schafft sich dadurch eine verlässlichere Beschäftigung."
Zusammenschluss erhöht die Wahrnehmung
Heute ist Martens glücklich, den Schritt zur Gründung der Genossenschaft gewagt zu haben. Die Mitglieder konnten ihre Beschäftigungssituation deutlich verbessern. Und die Historiker-Genossenschaft habe sich längst einen Namen geschaffen.
"Wir sind also nicht nur in Hamburg tätig, sondern wir haben Kunden von Berlin bis München, also quer durch die Republik und das wäre alles, als, sage ich mal, Einzelkämpfer, Freiberufler, kaum vorstellbar. Und auch der Einzelkämpfer lebt von seinem Ruf und dass es weitergetragen wird, und das potenziert sich bei uns sozusagen durch die Anzahl der Mitglieder. Also, die Wahrnehmung, die wir erreichen über unseren Zusammenschluss, ist sehr deutlich höher, als wenn man alleine unterwegs wäre."
"Hallo – Wer ist der Hausarzt? – Dr. Lindemann. Das kriegen wir hin."
Zurück im Ärztezentrum Büsum. Am Empfangstresen hat sich eine kleine Schlange gebildet, eine Patientin bestellt ein Rezept am Telefon.
"Genau. Mein Vater war hier schon seit 30 Jahren Hausarzt in Büsum, und ich bin dann quasi für ihn hier miteingestiegen."
Klaas Lindemann, also Lindemann Junior, hat gerade kurz Pause und sitzt in einem Behandlungszimmer. Der 32-Jährige ist sehr zufrieden als Angestellter des Ärztezentrums.
"Und gerade für uns Jungmediziner ist das eigentlich eine schöne Perspektive, ein tolles Konzept, da wir uns so auch auf den Arztjob konzentrieren können, und das Bürokratische, das Drumherum wird uns eben abgenommen, also das Management der Praxis, die Bürokratie, das Personal. Darum müssen wir uns nicht groß kümmern. Wir können uns auf unseren Job konzentrieren, das ist das Schöne, ja."
Die Genossenschaft Nord nimmt ihm also Verwaltungsarbeit ab – ist er denn schon Mitglied?
"Noch nicht. Aber ich habe den Anmeldevertrag bei mir gerade liegen."
Bei der Ärztegenossenschaft Nord ist jedes neue Gesicht willkommen, insbesondere deshalb, weil die Organisation in den letzten Jahren etwas kleiner geworden sei, wie Geschäftsführer Thomas Rampoldt erzählt.
"Warum ist die Zahl im Moment ein bisschen sinkend? Wir haben nicht nur in Schleswig-Holstein, auch in vielen anderen Regionen in Deutschland das Problem, dass circa 30 Prozent der Ärzte 60 Jahre und älter sind. Und mit dem Eintritt in den Ruhestand treten die Ärzte in der Regel auch aus der Ärztegenossenschaft aus."
Genossenschaften als Chance für den Mittelstand
Von dem Problem, zu dessen Lösung die Ärztegenossenschaft mit ihrem Projekt in Büsum beiträgt – dem Ärztemangel insbesondere in ländlichen Regionen –, ist die Organisation also auch selbst betroffen. Hohes genossenschaftliches Ideal trifft auf harte Wirklichkeit. Gleichzeitig haben sich Genossenschaften schon immer als pragmatische Problemlöser verstanden. Das gilt bis heute – und längst nicht nur im Gesundheitsbereich.
"Einen Ansatz, den wir aber gerade in Deutschland ins Auge fassen sollten, sind Übernahmen von bestehenden Betrieben. Da wird dann also die Genossenschaft neugegründet, das Unternehmen als solches besteht aber schon."
Und das wäre insbesondere für den Mittelstand eine Zukunftsvision, findet Genossenschaftsforscher Clemens Schimmele.
"Mehr Unternehmer als je zuvor brauchen ja in den nächsten Jahren eine Nachfolge, einige hunderttausend Unternehmen. Und aktuell stehen da chinesische, amerikanische, russische Investoren in den Startlöchern, um sich das Potenzial anzueignen. Dabei liegt es eigentlich nahe, gerade diese Unternehmen nicht der Spekulation zu überlassen, sondern in vielen Fällen könnte man sie auch einfach an ihre Belegschaften veräußern."
Was bisher allerdings nur ganz selten geschieht.
Einer dieser Ausnahmefälle ist die Planergemeinschaft für Stadt und Raum in Berlin – eine Genossenschaft mit Sitz über den Dächern der Stadt, in der siebten Etage eines Büro-Hauses, nicht weit vom Ku’damm entfernt.
"Also, wenn man bei uns reinkommt, dann wird man gleich hier empfangen in einem offenen Bereich. Direkt aus dem Aufzug steht man in diesem offenen Raum." Ursula Flecken ist Gründungsmitglied, Mitarbeiterin – und Vorstandsvorsitzende der Genossenschaft, gewählt von den Beschäftigten.
Angestellte übernehmen ihr Unternehmen
"Wir haben hier eine Glasfront einbauen lassen, so dass das total transparent ist. Und das soll auch so ein bisschen ausdrücken, wie wir arbeiten."
Von einem langen Flur gehen mehrere Büros ab. Auf Teams verteilt, sitzen hier insgesamt 31 Stadtplanerinnen und -planer. Sie zeichnen Entwürfe von Bebauungsplänen, betreiben Quartiersentwicklung oder bereiten Veranstaltungen mit Anwohnern vor – meistens im Auftrag der Stadt, aber durchaus auch für private Investoren. 2011 war der Gründer des Planungsbüros in den Ruhestand gegangen.
Ursula Flecken und andere Mitstreiter, die in dem Unternehmen arbeiteten, suchten nach Möglichkeiten, die wirtschaftlich gut laufende Firma zu erhalten, erzählt die heutige Vorstandsvorsitzende im Besprechungsraum der Genossenschaft.
"Ja, wir haben uns verschiedene Unternehmensformen angeguckt, haben das auch richtig so aufgeteilt: ‚du guckst dir das an, liest dich da rein‘. Und dann kam aber noch hinzu, das war so die Zeit, als es diese Eigenstrom-Mieter-Genossenschaften gab, um auf dem Dach dann Solar-Paneele zu machen. Das waren sehr oft Genossenschaften. Und da waren einige von uns, die da auch geliebäugelt haben, da Mitglied zu werden, daher kannten sie das."
Jedes Mitglied hat eine Stimme
Und bald war klar: Auch die Planergemeinschaft sollte eine Genossenschaft werden. Seit nunmehr sieben Jahren sind die Beschäftigten hier nicht nur Angestellte, sondern auch Eigentümer ihres Unternehmens. Was Ursula Flecken an der Rechtsform vor allem überzeugend findet? Die Vorstandsvorsitzende der Planergemeinschaft überlegt einen Augenblick …
"Vielleicht, dass jedes Genossenschaftsmitglied unabhängig davon, wie viele Anteile die Person hat, ob nun zwei oder fünfzehn, jeder hat eine Stimme, jeder. Also, man hat nicht mehr Stimmen, wenn man mehr Anteile hat. Und auch der Vorstand hat nicht mehr Stimmen."
Im höchsten Entscheidungsgremium einer Genossenschaft, der Generalversammlung.
"Jede Person hat dieselbe Stimme."
Flecken: "Herr Bestgen, grüße Sie."
Bestgen: Hallo, Frau Dr. Flecken. Freue mich, Sie zu sehen.
Bestgen: Hallo, Frau Dr. Flecken. Freue mich, Sie zu sehen.
Nach dem Interview trifft Ursula Flecken einen Kunden im Besprechungsraum, hinter verschlossenen Türen. Derweil macht sich Stadtplaner Jan Kaiser auf den Weg, um eines der kürzlich abgeschlossenen Projekte der Genossenschaft zu zeigen. Was schätzt der 38-Jährige besonders an seinem Arbeitsplatz?
"Im Wesentlichen die Mitbestimmung. Es kann natürlich nicht bis ins Letzte gehen. Es gibt sicherlich immer auch den Vorstand, der abschließend dann Entscheidungen treffen muss zu den einen oder anderen Fragen. Aber es gibt doch eine ganze Reihe an Möglichkeiten und auch an Formaten der Mitbestimmung und des gemeinschaftlichen Miteinanders."
Das Baugebiet "Friedenauer Höhen" liegt direkt bei einer S-Bahn-Station, auf dem sechs Hektar großen Gebiet eines ehemaligen Güterbahnhofs …
"Da ist die Autobahn, hier ist die Bahntrasse. Ob wir jetzt einen Güterzug sehen, weiß ich nicht, der fährt hier aber auch lang."
Hier hat die Planungsgemeinschaft vor kurzem den Bebauungsplan für 1000 Wohnungen fertiggestellt, hat skeptische Anwohner informiert und beteiligt und sich über den Lärmschutz den Kopf zerbrochen …
"Und jetzt drehen sich hier die ersten Kräne, und die ersten Gebäude werden errichtet."
Für ein Wohngebiet wirkt der Ort allerdings ziemlich unwirtlich.
"Ja, momentan staunt man ja, was in Berlin so alles nachgefragt wird. Der Druck ist, glaube ich, da, der Druck ist sehr hoch. Und dennoch gilt es natürlich, die Anforderungen an sogenannte gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse sicherzustellen, und das ist ein Thema, womit wir uns auch in der Bauleitplanung auseinandersetzen müssen, um eben diese Standards auch zu erfüllen."
Auf dem Rückweg zum Büro kommt Jan Kaiser noch einmal auf seine Arbeitsbedingungen bei der Planergemeinschaft zu sprechen. Als er vor vier Jahren bei der Genossenschaft angefangen hatte, erfuhr er, dass es hier viel Abstimmungsbedarf gibt, weil alle ihre Arbeitszeit sehr individuell gestalten können.
"Wir haben ja montags immer unsere Wochenanfangsbesprechung. Da leisten wir uns ein Stück weit dieses Individuelle, indem wir dann auch sagen, wer ist wann anwesend oder eben auch nicht. Und da habe ich mich so ein bisschen gefragt, wie soll das denn überhaupt laufen, aber nach einer kurzen Zeit war dann relativ klar: ja, das gehört dazu. Und das ist gar nicht mehr vorstellbar, dass es diese Wochenanfangsbesprechung eben nicht mehr gibt."
Bei Hess Natur hat sich der Finanzinvestor durchgesetzt
Die genossenschaftliche Übernahme eines Unternehmens durch die Belegschaft, so wie in Berlin – das klappt nicht immer.
Reporter: "Ob im Lager, in der Verwaltung oder in einem der inzwischen deutschlandweit verbreiteten Verkaufsläden – bei den Beschäftigten von Hess Natur gibt es zurzeit nur ein Thema: ihre Befürchtung, von dem Carlyle-Konzern geschluckt zu werden."
"Später wurde das ja eine David-gegen-Goliath-Geschichte. Und das ist natürlich etwas, was die Presse, auch Sie jetzt, gerne gemocht haben. Das haben wir natürlich auch ausgenutzt."
Erinnert sich Walter Strasheim-Weitz. Ende 2010 war er Betriebsratsvorsitzender beim Ökotextilien-Händler Hess Natur. Der gehörte zum pleitegegangenen Arcandor-Konzern und sollte an einen US-Finanzinvestor verkauft werden, der sich unter anderem auch an Rüstungsgeschäften beteiligte. Um diesen Verkauf zu verhindern, gründete Strasheim-Weitz zusammen mit Kollegen und Kunden eine Genossenschaft, die Hess Natur übernehmen sollte.
"Wir haben innerhalb von drei, dreieinhalb Monaten 3,8 Millionen Euro auf unserem Treuhänder-Konto gesammelt. Das haben wir im Endeffekt mit unseren Banken abgeklärt, und wir konnten ja dann auch ein Angebot abgeben über 28,7 Millionen. Also, das ist ja keine kleine Nummer."
Tatsächlich zog sich der Investor Carlyle zurück – der öffentliche Druck, durch die Genossenschaft, aber auch durch Medienberichte, etwa im Hessischen Rundfunk, war wohl zu groß geworden. Erst ein Jahr später, 2012, begann der Verkaufsprozess von neuem. Den Zuschlag erhielt nun der Finanzinvestor Capvis aus der Schweiz. Die Genossenschaft ging leer aus.
Reporter: "Walter Strasheim-Weitz will das aber nicht akzeptieren. Er bestreitet, dass der Verkauf rechtmäßig erfolgt ist. Es gebe viel zu viele Ungereimtheiten."
"Per se glaube ich mittlerweile, dass der Verkäufer zu keinem Zeitpunkt Interesse hatte, es an uns zu verkaufen. Warum auch immer!"
Inzwischen arbeitet Strasheim-Weitz nicht mehr bei Hess Natur. Er hat sich als Berater für Finanzbuchhaltung und Betriebsräte selbständig gemacht – und er beteiligt sich weiter begeistert an der Gründung von Genossenschaften, sei es nun eine ökologische Hanf-Faser-Genossenschaft in der Uckermark oder jüngst eine Familiengenossenschaft in seinem hessischen Heimatort Butzbach.
"Das ist etwas, das ich heiß und innig liebe: das heißt, der Kontakt mit Menschen, die sich einbringen wollen, etwas unterstützen wollen, voranbringen wollen, und das nicht unbedingt immer im kapitalistischen Sinne."
Klare Arbeitsteilung und viel Mitbestimmung
Bei der Berliner Planergemeinschaft für Stadt und Raum ist das Treffen der Vorstandsvorsitzenden der Genossenschaft, Ursula Flecken, mit ihrem Kunden vorbei. Es ist der Immobilienentwickler Thomas Bestgen, Gründer und Geschäftsführer der Firma UTB. Nach der Besprechung bleibt er noch kurz.
"Ja, ich komme aus der Genossenschaftsszene. Ich habe nach dem Abitur eine Ausbildung gemacht zum Bankkaufmann in einer Genossenschaftsbank in Wuppertal."
Und auch wenn er heute in Berlin eine GmbH führt, findet er Genossenschaften gerade für eine sozial ausgeglichene Stadtentwicklung wichtig. "Mein Ansatz ist eben, dass es eine gesunde Mischung geben muss. Natürlich müssen auch Investoren Geld verdienen."
Zusammen mit der Stadtplaner-Genossenschaft arbeitet Bestgens Firma UTB momentan an einem Wohnviertel, das einmal auf einer ehemaligen Industriefläche in Berlin-Spandau entstehen soll. Es gibt also genug zu tun für die Planergemeinschaft, der Firma geht es gut. Und auch die demokratische Debattenkultur funktioniere, sagt die Vorstandsvorsitzende Ursula Flecken.
"Im Moment haben wir die Diskussion über die Gehaltsstruktur."
Und alle Beschäftigten, die zugleich Mitglieder der Genossenschaft sind, können sich daran beteiligen, etwa wenn es um die Frage geht, wie hoch der Abstand zwischen niedrigstem und höchstem Gehalt sein darf.
"Da wir als Vorstand letztlich auch für das ökonomische Funktionieren dieses Büros verantwortlich sind, entscheiden wir auch letztendlich darüber. Aber diese neue Gehaltsstruktur ist ein längerer Prozess gewesen, auch ein Diskussionsprozess. Das ist nicht so, dass wir uns das im Hinterzimmer überlegen."
Trotzdem: klare Entscheidungsstrukturen scheinen für die Planergemeinschaft sehr wichtig zu sein.
Ursula Flecken bilanziert stolz: "Wir sind eigentlich das krasse Gegenteil von dem, was man sich landläufig von einer Genossenschaft vorstellt. Da stellt man sich vor, oh, die diskutieren die ganze Zeit, die kommen gar nicht zum Arbeiten, das ist ein wilder Chaotenhaufen. Nein, wir sind über unsere Satzung sehr gut organisiert, es ist deutlich und für alle nachlesbar, was die Aufgaben sind."
Doch eine solche Arbeitsteilung müssen die Mitglieder einer Genossenschaft zunächst einmal gemeinsam entwickeln, sagt Holger Martens. Der Vorstandsvorsitzende und Geschäftsführer der Historiker-Genossenschaft hatte 2005 schon einmal eine Genossenschaft für Geschichtswissenschaftler gegründet.
Die Idee damals war, "dass die diejenigen, die mitmachen, auch ihre Kontakte und so weiter einbringen, jeder auch seine Aufträge bearbeitet, dann unter dem Dach der Genossenschaft. Und wenn jemand eben mehr akquiriert, als er bearbeiten kann, kann jemand das jemand anderem abgeben, oder wenn jemand einen großen Auftrag bekommt, dass man das mit mehreren macht. So war die Idee."
Die allerdings nicht funktioniert habe, wie Martens rückblickend einräumt.
"In der Praxis war es dann nachher so, dass ich im Wesentlichen die Akquise gemacht habe und, ich würde sagen, 80 bis 90 Prozent der Aufträge besorgt habe, und die anderen haben immer gesagt, das ist ja schön, dann werden davon die Genossenschaftsanteile für die Overheadkosten abgezogen, und dann werden die Aufträge weitergegeben zur Bearbeitung, so dass ich dann sagen musste: Gut, wenn das so ist, dann müssen wir uns auch über die Finanzierung meiner Arbeit unterhalten, und darüber ist es dann zu so einem großen Krach gekommen, dass ich mit meiner Vorstandskollegin kurzerhand ausgeschieden bin und 2011 dann eine neue Genossenschaft, die Historiker-Genossenschaft, gegründet habe."
Kolleginnen und Kollegen profitieren voneinander
Und hier haben Martens und seine damalige Vorstandskollegin Andrea Brinkmann, die auch heute Mitglied der Historiker-Genossenschaft ist, gleich darauf geachtet, dass professionelle Strukturen entstehen. Dazu gehört, dass die Geschäftsführung ausreichend Mittel aus den Projekten erhält, um Verhandlungen zu führen und die Akquise der Aufträge zu übernehmen. Auch schaue man sich die Interessenten für eine Mitgliedschaft vor einer Neuaufnahme genauer an, die Zusammenarbeit werde zunächst erprobt. Denn für Kooperation auf Augenhöhe müsse man das Verständnis mitbringen.
"Dass man im Rahmen der Selbsthilfe und Selbstverantwortung – das sind ja große Schlagworte der Genossenschaftsbewegung –, dass man sich in dem Feld bewegt und von sich heraus die Initiative ergreift, um gemeinsam etwas zu machen. Und was ich heute gebe, das bekomme ich morgen in anderer Weise zurück. Und ich glaube, wenn man diese Zusammenarbeit mal ausprobiert hat, wird das jeder bestätigen können, dass das nie eine Einbahnstraße ist, wenn man sich darauf einlässt, sondern dass man auch sehr viel von den Kollegen durch Rat und Tat profitieren kann."
Leisten die Mitarbeiter in Genossenschaften also letztlich bessere Arbeit?
"Ich meine, dass die Leute motivierter sind, auch im Sinne der Ökonomie."
Ursula Flecken, Vorstandsvorsitzende der Planergemeinschaft, sieht das jedenfalls so.
"Ich glaube, das interessiert jemanden, der nur angestellt ist irgendwo, gar nicht so sehr. Natürlich will der jeden Monat sein Gehalt bekommen, aber dass das Büro als Ganzes perspektivisch über Jahre ökonomisch gut funktioniert, das ist schon das Interesse von jeder einzelnen Person, und entsprechend arbeiten die Leute auch."