Genossin Rabenmutter

Ein Junge und ein Mädchen werden von ihrer linientreuen Mutter in der DDR vernachlässigt. Der Sohn begeht Selbstmord. Vorlagen für den neuen Roman von Julia Franck sind ihre Großmutter, die Bildhauerin und Kommunistin Ingeborg Hunziger, und ihr Onkel, der sich das Leben nahm.
Ein "Tabaksaal" wird in diesem Roman mehrfach erwähnt. Ein sicheres Indiz dafür, dass Julia Franck eine Geschichte aus der Vergangenheit erzählt, denn wo fände man heute noch solche rauchschwadengeschwängerten Salons? Zurück in die Zeit vor fünfzig Jahren also, in welcher in der DDR ein gewisser Fred Frohberg seine Schlager trällerte, während Freddy Quinn in der Bundesrepublik Gleiches tat. Zurück in die Jahre kurz vor und nach dem Mauerbau 1961.

In Rahnsdorf im Osten Berlins wachsen Ella und ihr ein Jahr jüngerer Bruder Thomas vaterlos bei Käthe auf - einer Megäre von einer Mutter. Was sie ihren Kindern zumutet, ist wahrlich starker Tobak. Nicht nur kümmert es sie gar nicht, wenn Sohn und Tochter vor ihr im Winter auf den eiskalten Müggelsee fliehen und halberfroren drei Tage später erst wiederkommen. Selbst im Erwachsenenalter noch bevormundet sie sie gnadenlos und weist ihnen den einzig richtigen Weg, nämlich den, dem "kommunistischen Kollektiv" zu dienen. Der Sohn wird seiner "Zweifel am Roten Weg" wegen in die Produktion geschickt (ein Steinbruch in Sachsen-Anhalt, wo er sich beinahe den Tod holt), die Tochter fängt sich Ohrfeigen ein, wenn sie nur leise die Stimme gegen das herzlose Regiment der linientreuen Genossin erhebt.

Diese Mutter ist Künstlerin. Als Bildhauerin kloppt sie in ihrem Atelier Helden-der-Arbeit-Friese. Die Pikanterie dieser Geschichte besteht nun darin, dass die Biographie dieser Person viele Übereinstimmungen mit der von Julia Francks 2009 verstorbener Großmutter Ingeborg Hunzinger aufweist - und dass jener Gedichte schreibende "weiche" Thomas, der gegen sie rebelliert (mit Sätzen wie "Deine Partei ist ein Knast" oder "Die Mauer macht uns endgültig zu Tieren im Zoo ... Wie könnt ihr da draußen vorbeigehen und uns dabei zuschauen, wie wir auf- und abgehen am Gitter unseres sozialistischen Traumes?") kein anderer ist als Julia Francks Onkel Gottlieb Friedrich Franck. Verzweifelt um Freiheit ringend, wählte er 1962 den Freitod. Viele seiner hinterlassenen Verse zitiert Julia Franck wörtlich.

Durchaus überzeugend gelingt es der Autorin, Bilder zu finden "für das, was in der deutschen, demokratischen Republik ... geschah": für die Demütigung derer, die sich nicht fügen und anpassen wollten und die daran zugrunde gingen, wie ein Staat sie zur permanenten Selbsterniedrigung und -verleugnung anhielt. Ella, vergewaltigt und erpresst von einem Stasi-Spitzel, flüchtet sich in eine Fantasiesprache, während Thomas in seiner Poesie "die Sprache dem Politischen entreißen und für das Schöne zurückgewinnen will". Keines der beiden oft Rücken an Rücken sitzenden und sich Geschichten erzählenden Geschwister vermag sich gegen die strenge Genossin Rabenmutter zur Wehr zu setzen.

Erneut hat Julia Franck - wie schon zuvor in ihrem preisgekrönten Roman "Die Mittagsfrau" - ein Kapitel der eigenen Familienhistorie aufgearbeitet. In "Rücken an Rücken" gelingt ihr ein das Porträt einer an Gefühlskälte schier nicht zu überbietenden Karrieristin, von der es mal heißt, sie erscheine wie "ein Kanten Holz". Dass dieses Buch indes nicht vollends für sich einnimmt, liegt wohl gerade an der holzschnitthaften Charakteristik der Hauptfiguren (hier der "Hamlet" rezitierende Sohn, da die hohlen Parolen und ewiger Parteidisziplin huldigende Mutter). Man wird bei der Lektüre den Verdacht nicht los, dass die Menschen aus krummerem Holz geschnitzt sind, als sie hier dargestellt werden.

Besprochen von Knut Cordsen

Julia Franck: Rücken an Rücken
Roman
Verlag S. Fischer
382 Seiten. 19.95 Euro
Mehr zum Thema