Genozid

Gebt Ruanda mehr Zeit!

Fotografien von Opfern des Völkermordes in einer Gedenkstätte in Ruandas Hauptstadt Kigali
Fotografien von Opfern des Völkermordes in einer Gedenkstätte in in Kigali © picture-alliance/ dpa / Wolfgang Langenstrassen
Von Arlette-Louise Ndakoze · 04.04.2014
Was hat Ruanda aus dem Völkermord vor 20 Jahren gelernt? Sehr viel, trotzdem braucht Ruanda noch Zeit, sagt die Journalistin Arlette-Louise Ndakoze. Die Zeit werde auch zeigen, ob die Versöhnungspolitik der Regierung greift.
Wenn die Nachkriegszeit den Überlebenden keine Perspektive bietet, ist sie weit traumatisierender als der Krieg selbst. Das stellt eine Untersuchung des Psychoanalytikers Hans Keilson fest. Deshalb hat sich das ostafrikanische Ruanda Ziele gesetzt, um sich auszusöhnen und sich zu entwickeln. Der Weg, den es dabei nimmt, passt einigen Europäern nur nicht. Sie übersehen, dass dieses Land nach mehreren Bürgerkriegen und einem Genozid Wunden trägt, die erst noch verheilen müssen.
Was wird der Regierung unter Paul Kagame nachgesagt? Sie sei diktatorisch, weil sie nur wenige oppositionelle Parteien zulassen würde. Mit dem Vorwurf der Diktatur sollte man vorsichtig umgehen, denn eine Diktatur waren jene dreißig Jahre, die 1994 zum Genozid führten.
Ruanda ist kein diktatorischer, sondern ein autoritärer Staat. Die Kritik Europas verwundert, denn diktatorische und autoritäre Regime begleiteten seine Entwicklung. Und gerade die Deutschen wissen, wie lange eine dunkle Vergangenheit nachwirkt. Kagame will einen weiteren Krieg vermeiden, deshalb geht er vorsichtig mit seiner Opposition um.
Entscheidend ist, dass sein autoritäres Regieren bislang nicht zu Machtmissbrauch führte. Im Gegenteil: Zwanzig Jahre nach dem Genozid hat sich Ruanda von einem "failed state" zu einem wettbewerbsfähigen Land entwickelt.
Im Rahmen des Entwicklungsprogramms "Vision 2020" genießt schon heute jedes Kind eine kostenlose Grundschulbildung; um Hungersnot zu unterbinden, soll jeder Familie eine Kuh zur Verfügung stehen; jeder Ruandese hat mittlerweile kostenfreien Zugang zur Gesundheitsversorgung; binnen Stunden entstehen neue Firmen und Frauen bilden im Parlament die Mehrheit.
Belgier teilten Bevölkerung in "Hutu" und "Tutsi"
Mit dem Schwerpunkt auf sozialer Gleichheit verarztet Ruanda eine tiefliegende Wunde. Schon 1957, zwei Jahre vor dem ersten Bürgerkrieg, hatten Studenten dies in einem Manifest gefordert. Dass der Konflikt daraufhin eskalierte, lag an den damaligen belgischen Kolonialherren, die 25 Jahre zuvor aus den Klassenbegriffen "Hutu" und "Tutsi" Identifikationsmerkmale gemacht hatten; willkürlich hatten sie entschieden, wer "Hutu" und wer "Tutsi" sei und diese Bezeichnung in den Pässen eingetragen.
Die heutige Versöhnungspolitik verbietet es, diese Bezeichnungen zu verwenden. Sie will die Ruandesen vereinen und wieder zueinander führen. Ehemalige Mörder werden resozialisiert und kehren in ihre Gemeinden zurück, wo Überlebende des Krieges den Alltag mit ihnen meistern. Sie werden dazu bewegt, zu verzeihen, den Mördern ihrer Familienangehörigen wieder in die Augen zu schauen und ihre Angst zu überwinden. Allein das ist ein Fortschritt, der seinesgleichen sucht.
Doch genau hierin liegt die Problematik: Kann der einzelne Mensch, angesichts des Traumas, das die Bevölkerung erlebt hat, verzeihen, geschweige denn verstehen? Ruanda will erst einmal nach vorne schauen. Die Zeit wird kommen, in der die dritte oder vierte Generation nach dem Krieg zurückblicken und anfangen wird, Fragen zu stellen. Diese Zeit wird kommen, wie sie auch in Deutschland kam, als die 68-er Generation das Schweigen ihrer Eltern brach.
Ob Ruandas Entwicklungs- und Versöhnungspolitik in die richtige Richtung geht? Die Geschichtsschreibung lehrt: Es braucht zeitlichen Abstand, um Ereignisse bewerten zu können. Lassen wir Europäer diesen Abstand zu. Geben wir dem ostafrikanischen Land die Zeit, die es braucht.
Arlette-Louise Ndakoze, 1983 in Burundi geboren – mit einem ruandesischen Pass, studierte Frankreichwissenschaften in Berlin und Ruanda und arbeitet derzeit als freie Journalistin für Deutschlandradio und den Berliner Radiosender 88,4.
Arlette-Louise Ndakoze, 1983 in Burundi geboren – mit einem ruandesischen Pass, studierte Frankreichwissenschaften in Berlin und Ruanda und arbeitet derzeit als freie Journalistin für Deutschlandradio und den Berliner Radiosender 88,4.
Arlette-Louise Ndakoze© Clara Morales Benito
Mehr zum Thema