Genscher: Solidarität ist eine Selbstverständlichkeit

Moderation: Jörg Degenhardt · 02.10.2007
Der ehemalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher hat mehr Solidarität zwischen Ost- und Westdeutschland angemahnt. "Zunächst einmal ist es selbstverständlich, dass man in einem Volk dem anderen hilft, wenn es ihm schlechter geht", sagte Genscher. Der FDP-Politiker forderte zugleich stärkere Investitionen in den Bildungsbereich, um die Abwanderung aus Ostdeutschland zu stoppen.
Jörg Degenhardt: Sie sind die ersten, die zum zweiten Mal dürfen. Das Land Mecklenburg-Vorpommern ist morgen erneut an der Reihe mit der zentralen Feier zum Tag der Deutschen Einheit. Kurze Rückblende: Vor 15 Jahren kam Frau Merkel noch als Bundesministerin für Frauen und Jugend nach Schwerin. Der damalige Bundespräsident von Weizsäcker mahnte bei den Westdeutschen mehr Opferbereitschaft an und schlug eine fünfjährige Lohnpause vor. Und Kanzler Kohl schließlich wurde nicht nur von Jubel, sondern mit Protesten empfangen. Er entzog sich den Demonstranten unbemerkt auf einem Schleichweg ins Schweriner Schlosscafe, wo der damalige Bundesverkehrsminister Krause Klavier spielte. Geschichte. Einer, der den Prozess der Deutschen Einheit auf den Weg gebracht und ganz maßgeblich mitgestaltet hat, ist jetzt am Telefon. Ich begrüße den heutigen FDP-Ehrenvorsitzenden und damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Guten Morgen, Herr Genscher!

Hans-Dietrich Genscher: Guten Morgen!

Degenhardt: Wir würden Sie denn die innerdeutsche Gefühlslage nach 17 Jahren Einheit beschreiben? Sprechen Ost- und Westdeutsche schon eine gemeinsame Sprache, frei von Missverständnissen?

Genscher: Missverständnisse gibt es überall. Übrigens auch zwischen Nord und Süd. In Bayern denk man und sieht man vieles anders als in Schleswig-Holstein. Aber natürlich gibt es Unterschiede zwischen Ost und West. Kann das erstaunlich sein, wenn über Jahrzehnte eine völlig unterschiedliche Entwicklung erlebt und gelebt worden ist? Mich wundert das überhaupt nicht. Wenngleich ich feststelle, dass über die wirklichen, aber auch vermeintlichen Unterschiede häufig von Leuten geredet und geschrieben wird, die so genau die beiden Seiten sich gar nicht angesehen haben. Ich höre viele westdeutsche Stimmen. Wenn ich dann frage, was kennen Sie denn, waren Sie schon mal dort, haben Sie das gesehen, ist meist eine gewisse Verlegenheitspause. Man kann Dinge schärfer konturieren als sie sind. Aber dass es Unterschiede gibt, ist für mich eine ganze Selbstverständlichkeit. Das ändert nichts daran, dass der Blick zurück auch etwas anderes zeigt. Nämlich, dass Freiheit nicht nur von den Menschen im Osten gewollt wurde 1989, sondern friedlich durchgesetzt wurde. Dass diese Freiheit gelebt wird und dass neue Chancen sich eröffnet haben. Und das ist für mich eine begrüßenswerte Entwicklung. Ich jedenfalls lasse mir die Freude darüber, dass wir friedlich wieder miteinander vereint sind, von niemandem nehmen.

Degenhardt: Dennoch wünschen sich knapp 18 Jahre nach dem Fall der Mauer 21 Prozent der Bewohner von Sachsen-Anhalt, also Ihrem Bundesland, die DDR zurück. Sind das alles ewig Gestrige?

Genscher: Nein. Also das würde ich gar nicht sagen. Das sind auch viele, die vom Leben enttäuscht sind. Andere, denen es vielleicht schwer geworden ist, sich umzustellen auf eine vollkommen neue Gesellschaftsordnung. Das ist ja etwas, was vielleicht wiederum im Westen unterschätzt wird. Dass das Jahr 1989 eine so grundlegende Veränderung gebracht hat, dass eben auch ganze Lebenswege beendet und neu gedacht und neu beschritten werden mussten. Das hat nicht jeder geschafft. Und wenn er älter war, war es eben noch schwerer, als jüngere Menschen. Das alles ist verständlich. Ich kann mich nicht darüber freuen, dass das so viele in der Umfrage gesagt haben, aber verstehen kann man das. Da kann man nicht sagen, das sind alles ewig Gestrige.

Degenhardt: Auf der anderen Seite, Herr Genscher, gibt es Westdeutsche, die vermissen so etwas wie Dankbarkeit für die mit der Einheit verbundenen Subventionen. Ist die angebracht?

Genscher: Also solche habe ich noch nicht getroffen. Wenn ich sie treffen würde, würde ich ihnen sagen, Dankbarkeit ist eine Sache von beiden Seiten. Zunächst einmal ist es selbstverständlich, dass man in einem Volk dem anderen hilft, wenn es ihm schlechter geht. Das galt übrigens in Westdeutschland schon so. Wenn Sie bedenken, dass etwa Bayern über Jahrzehnte, nämlich genau bis zum Jahr 1989, aus dem Länderfinanzausgleich Mittel aus anderen Bundesländern, aus Nordrhein-Westfalen, aus Baden-Württemberg, aus Hessen, aus Hamburg erhalten hat, dann zeigt das, dass eine Solidarität zwischen den verschiedenen Regionen eine pure Selbstverständlichkeit ist. Und eines darf man nicht unterschätzen. Keiner ist mit leeren Händen ins vereinte Land gekommen. Die Westdeutschen mit wirklich kraftvollen Wirtschaft und einer lebendigen Demokratie und die Deutschen aus der DDR mit etwas ganz besonders Kostbarem, nämlich selbst und friedlich errungener Freiheit. Dass Deutsche diesmal, als es um Freiheit und Demokratie in Europa ging, auf der richtigen Seite gestanden haben, das hat uns in einem ideellen Sinne als Deutsche sehr viel reicher gemacht und unser Ansehen in der Welt erheblich verbessert.

Degenhardt: Dennoch auch nach 17 Jahren wandern viele Menschen, zumal junge, aus den neuen Ländern ab. Im ersten Quartal 2007 waren es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 28.700. Fast so viele wie im Vorjahreszeitraum. Wie kann man denn diesen Trend stoppen?

Genscher: Ja, ich glaube, dass Sie hier an einen Punkt kommen, der die allergrößte Aufmerksamkeit braucht. Ich fand es sehr interessant, als es darum gering, Eliteuniversitäten herauszufinden, dass die in Baden-Württemberg und Bayern liegen. Warum? Weil es die Bundesländer sind, die die meisten finanziellen Möglichkeiten haben, Bildungseinrichtungen, vor allen Dingen auch Forschungseinrichtungen und Universitäten zuallererst großzügig zu fördern, wie das in anderen Teilen der Welt absolut selbstverständlich ist. Und das heißt, es ist wichtig, dass wir zunehmend ein Schwergewicht legen auf die Förderung von Universitäten, Forschungseinrichtungen in den neuen Bundesländern. Das hilft auch der Wirtschaft. Das übt eine große Anziehungskraft auf moderne zukunftsorientierte Unternehmen aus, die sich um solche wissenschaftlichen Zentren herum bilden. Erhöht aber auch für junge Menschen die Attraktivität dieser Landschaft. Und da wir im Zeitalter der Globalisierung ohnehin endlich mehr tun müssen für Bildung und Wissenschaft und Forschung, weit mehr, wenn wir auch in 20 oder 30 Jahren noch soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit garantieren wollen, wäre hier Schwerpunktbildung Ost aus meiner Überzeugung ein ganz wichtiges Mittel. Und dann werden Sie erleben, dass nicht nur junge Menschen bleiben, sondern auch westdeutsche hinzukommen und aus anderen Ländern auch, wie es ja früher ohnehin der Fall war.

Degenhardt: Bis 2019 läuft jedenfalls der Solidarpakt II. Ist bis dahin ein selbst treibender Aufschwung im Osten hinzukriegen oder zumindest in großen Teilen des Ostens?

Genscher: Ich denke, dass er in manchen Teilen schon da ist. Das andere wird sehr viel stärker sein als heute. Ob das nun genauso ist dann wie in Westdeutschland, das kann man nicht sagen. Aber ich rede hier ja nicht in erster Linie darum, dass die wirtschaftlichen Möglichkeiten durch direkte Mittelzuwendungen verbessert werden. Sondern ich rede darum, dass wir den Zukunftsstandort neue Bundesländer verstärken. Und das können die neuen Bundesländer nicht aus eigener Kraft, weil sie nicht über die Finanzmittel verfügen, über die die Länder verfügen, in denen wir heute Industrienansiedlungen, eine florierende Wirtschaft bereits haben. Es ist ein schönes Wort von Wettbewerbsföderalismus zu reden. Beim Wettbewerb müssen alle an gleicher Stelle unter gleichen Konditionen im selben Zeitpunkt zum Lauf starten. Aber wenn ein Teil des Landes 40 Jahre später erst starten konnte, dann bedarf eines Ausgleiches. Und das gilt für die Wissenschaft und Forschung nicht weniger als für andere Bereiche.

Degenhardt: Herr Genscher, der für den Aufbau Ost zuständige Bundesminister Tiefensee von den Sozialdemokraten wünscht sich mehr Urlauber aus in Ostdeutschland. Die Bürger sollten darüber nachdenken, ihren Urlaub im kommenden Sommer, statt auf Mallorca oder in Österreich, in Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern zu verbringen. Haben Sie vielleicht noch ein Geheimtipp für Sachsen-Anhalt?

Genscher: Sachsen-Anhalt bietet so unendlich viel. Wer die deutsche Kultur- und Geistesgeschichte verstehen will, der muss einfach nach Sachsen-Anhalt kommen. Und ich habe dazu schon in den 70er Jahren aufgerufen und in den 80er Jahren. Es ist wunderbar, dass ihr mit euren Kindern, habe ich damals gesagt, dass ihr mit euren Kindern in die Welt reist, Europa kennenlernt. Aber einmal solltet ihr auch damals noch in die DDR reisen, um jeden Kind deutlich zu machen, das ist Deutschland, wie auch die Bundesrepublik Deutschland Deutschland ist. Das geht natürlich heute erst recht. Und viele, ich sage es noch einmal, die ihre vermeintlich Sachverständigenurteile über die Lage im Osten oder gar über diesen wirklich arroganten Begriff der nicht vorhandenen Dankbarkeit verwenden, sollten lieber eine Reise in die neuen Bundesländer machen. Dass mir dabei Sachsen-Anhalt besonders am Herzen liegt, wird jeder verstehen.

Degenhardt: Vor dem Tag der Deutschen Einheit. Das war der heutige FDP-Ehrenvorsitzende und damalige Hans-Dietrich Genscher. Herr Genscher, vielen Dank für das Gespräch!

Genscher: Auf Wiederhören!