Suffizienz

Mehr Genügsamkeit, weniger Gier

Junge Frau betrachtet den Setzling in einem kleinen Grünhaus
Die meisten Menschen wissen, dass materielle Ziele allein sie nicht glücklich machen, zeigt eine Umfrage des Allensbach-Instituts von 2023. © Getty Images / Guido Mieth
09.08.2024
Anerkennung und Bestätigung – als soziales Wesen braucht der Mensch das und will davon immer mehr. Die Forschung zeigt: Am meisten steht die Gier dem Glück der Genügsamkeit im Weg. Aber es gibt Stellschrauben um genügsamer zu werden.
Mehr haben, mehr kaufen, auf der Karriereleiter immer höher klettern - Anerkennung ist für das soziale Tier Mensch von immenser Bedeutung. Konsum beschert die begehrte Anerkennung schnell. Sich dem zu entziehen, ist fast unmöglich, weiß der Politikwissenschaftler Jochen Dallmer, der zu Glücksempfinden und Nachhaltigkeit geforscht hat. Doch Konsum allein macht nicht glücklich.
Nur etwas über ein Drittel halten „hohes Einkommen und Wohlstand“ laut einer Umfrage des Allensbach-Instituts von 2023 für besonders wichtig und erstrebenswert im Leben. Für rund 80 Prozent der Befragten sind es hingegen „Freundschaften, enge Beziehungen und Familie“ und für deutlich mehr als die Hälfte „Gerechtigkeit“. Studien zeigen auch, dass der Kontakt zur Natur und zu Tieren deutlich zum Wohlbefinden beiträgt.
Der Faktor, der dem Glück der Genügsamkeit, auch Suffizienz genannt, am meisten im Weg steht, ist aus Sicht von Forschern die Gier. Was fördert sie? Was dämmt sie ein? Ist sie angeboren oder anerzogen? Die Forschung zu Gier steht noch am Anfang, doch eine Studie des Psychologen Patrick Mussels, die 2019 im angesehenen Fachblatt „nature“ publiziert wurde, liefert erste Einblicke.
Ob wir individuell in Richtung Gier oder Genügsamkeit tendieren, ist demnach ein Stückweit Veranlagung, aber nicht nur. Der Einfluss unserer Umgebung spielt ebenfalls eine Rolle. Es gibt etliche Stellschrauben, an denen man drehen kann, um im eigenen Leben mehr Einfachheit, freie Zeit, Nähe zu den eigenen Gefühlen und zur Natur erfahren zu können.

Stellschraube eins: Die Qualität persönlicher Beziehungen

Im Zentrum eines erfüllten Lebens stehen soziale Kontakte, denn der Mensch ist ein soziales Wesen, das Familie, Freunde und andere Menschen um sich herum braucht, erläutert der Politikwissenschaftler Jochem Dallmer den Stand der Forschung.
Gierige Menschen haben zwar genauso viele soziale Kontakte wie Personen, die weniger gierig sind, aber die Qualität ihrer Kontakte ist eine andere, sagt der Persönlichkeitspsychologe Patrick Mussel. Ihre Beziehungen zu anderen Menschen sind weniger nah und vertrauensvoll. Häufig haben sie einen instrumentellen Charakter - sie pflegen die Kontakte solange diese ihnen Vorteile bieten.
Kaum verwunderlich, dass gierige Menschen mit ihren Beziehungen weniger zufrieden sind und sich häufiger einsam fühlen. Die Forschung zeigt: Wer in Freundschaften und die Qualität von Beziehungen investiert, statt in Besitztümer, geht einen großen Schritt in Richtung Zufriedenheit.

Stellschraube zwei: Innere Glaubenssätze

Menschen mit negativen Glaubenssätzen empfinden offenbar ein ständiges inneres Defizit. Sie suchen permanent nach Anerkennung, Kontrolle, Bestätigung und materiellen Gütern - als Ersatz. Viele Glaubenssätze entstehen in der Kindheit und lauten im ungünstigen Fall: Niemand liebt mich. Niemand schenkt mir etwas. Wenn ich meine Ellenbogen nicht ausfahre, gehe ich unter.
Der Persönlichkeitspsychologe Patrick Mussel von der Freien Universität Berlin, der 400 junge Erwachsene in einer Längsschnittstudie über mehrere Jahre begleitet hat, hat den Zusammenhang zwischen Gier und negativen Glaubenssätzen in Fragebögen erfasst. Das Ergebnis: Je stärker die Gier, desto ausgeprägter sind negative Glaubenssätze. Außerdem zeigen die Ergebnisse, dass Gier bei Menschen mit stark negativ ausgeprägten Glaubenssätzen im Laufe ihres Lebens zunimmt, während sie bei Personen ohne negative Glaubenssätze eher abnimmt.

Glaubenssätze lassen sich verändern

Glaubenssätze sind aber nicht angeboren, wir können sie verändern. Wer neue Umgebungen oder ein neues Umfeld sucht, der kann auch neue Vorstellungen von sich und der Welt entwickeln. So wie der der Berliner Arzt Phillip Fuge, der in der Weite der Natur ganz bewusst nach Erfahrungen sucht, bei denen er Öffnung und Kontrollverlust als etwas Positives erleben kann. Oder wie Taiji-Lehrer Manfred Folkers, der sich bei seiner ersten Asienreise von der asiatischen Spiritualität inspirieren ließ.

Stellschraube drei: Sinnerfülltheit

Menschen möchten wissen, warum sie etwas tun, ob aus einer religiösen Perspektive oder weil ihre Arbeit oder ihr Ehrenamt etwas Gutes und Hilfreiches bewirken. Der Arzt Phillip Fuge sammelt Geld für die Aufforstung von Dürregebieten, indem er Diavorträge über seine Wanderungen hält und Bücher schreibt. Taiji-Lehrer Folkers vernetzt sich mit umweltbewegten Menschen, nimmt an Protestaktionen teil oder campt vor Zementwerken, um gegen den CO2-Ausstoß zu protestieren.

Sinnhaft: Teil eines großen Ganzen sein

Nach Erkenntnissen der Krankenkasse AOK sind Beschäftige, die ihre Arbeit für sinnvoll halten, seltener krank. Sie empfänden eine hohe Überstimmung zwischen ihrer Arbeit und ihren persönlichen Potenzialen. Das sei dann der Fall, „wenn Arbeit Lernmöglichkeiten bietet, das Wir-Gefühl fördert und erkennbar zum Erfolg des gesamten Unternehmens beiträgt.“
Zu Sinnerfülltheit gehört offenbar das Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein. Gierigen Menschen hingegen geht es vor allem um den eigenen Vorteil. Ein psychologisches Experiment zu Gier an der FU Berlin, bei dem gierige und nicht gierige Personen gemeinsam einen Fischteich bewirtschafteten, zeigt, dass gierige Menschen sich auch dann nicht mäßigten, wenn es auf Kosten Anderer ging oder die Gefahr der Überfischung bestand.

Stellschraube vier: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Angesichts der begrenzten Ressourcen auf der Erde steht außer Frage, dass die moderne Zivilisation den Wandel zu mehr Genügsamkeit, Nachhaltigkeit und dem Wirtschaften in Kreisläufen braucht. Doch wie lässt sich das umsetzen? Die Gier-Forschung zeigt, dass eine auf Profit und Status ausgerichtete Gesellschaft Menschen mit einem Hang zur Gier zu noch mehr Gier anstachelt. Genügsamere Kulturen hingegen bringen im Mittel auch mehr genügsamere Menschen hervor und in der Folge ein gerechteres Zusammenleben mit mehr gemeinschaftlichen Gütern.

"Arm, aber glücklich" greift zu kurz

Genügsamkeit sollte aber nicht als „arm, aber glücklich“ missverstanden werden. Diese simple Vorstellung greift zu kurz und lässt sich empirisch nicht bestätigen. Im Gegenteil, weiß der Hausarzt Phillip Fuge. Ihm begegnen in seiner Praxis häufig Menschen, die in leidvoller Armut leben und denen er mehr Entwicklungsräume wünschen würde.
Um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen umzusetzen, die notwendig sind, damit Menschen ihr Leben in Frieden, Freiheit und materiell abgesichert leben können, muss eine Kultur nicht reich, aber zum Teilen bereit sein.
Doch um die alte Kulturtechnik des Teilens wird politisch gerungen. Wie hoch sollen die Steuern sein? Wieviel staatliches Geld soll in das Gemeinwesen fließen; in eine gut ausgebaute öffentliche Infrastruktur, Kunst und Kultur, solidarische Versicherungen, Gemeinschaftsgärten, Leih- und Tauschbörsen, Bibliotheken, Busse, Bahnen und Schwimmbäder?
Dabei geht es auch um die Frage, wie sogenannte Suffizienz-Prinzipien politisch umgesetzt werden können. Besser nicht mit Verboten, sondern in Form von Anreizen und Angeboten, schlägt der Energieexperte Benjamin Best in einem Aufsatz über Suffizienz auf der Webseite der Heinrich-Böll-Stiftung vor. Sonst würden entsprechende Maßnahmen „aus Angst vor der „Verbotskeule“ verhindert.

Stellschraube fünf: Selbstwirksamkeit

Selbstwirksamkeit, auch „Agency“ genannt, ist das Gefühl, etwas hinzubekommen. „Werkstolz“ wäre ein anderes Wort dafür. Den kann nicht nur eine Schreinerin oder ein Fliesenleger erfahren, sondern auch eine Pflegekraft auf der Krankenstation oder ein Hobbygärtner im Schrebergarten.
Umgekehrt sinkt die Selbstwirksamkeit, wenn das Gefühl entsteht, ohnmächtig ausgeliefert zu sein und sich hilflos zu fühlen, sagt Isabella Helmreich, Psychotherapeutin und Psychologin am Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz.  
Menschen mit hoher Selbstwirksamkeitserwartung glauben daran, dass sie bestimmte Dinge gut bewältigen können, sagt Bastian Willenborg, Facharzt für psychosomatische Medizin. Sie haben mehr Selbstbewusstsein.
Die gute Nachricht ist: Selbstwirksamkeit lässt sich trainieren, indem man sich realistische Ziele setzt, die in naher Zukunft erreichbar sind – sogenannte Nahziele, heißt es bei der AOK Krankenkasse.
Wer seine Nahziele erreicht, dürfe sich dafür ruhig auch beglückwünschen, sagt Experte Bastian Willenborg. Das Lob einer Freundin oder eines Familienmitglieds kann zwar auch schön sein, doch wir können uns eben auch unabhängig davon selbst für unsere Erfolge beglückwünschen.

tha
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