Kampf ums nackte Überleben
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Wegen der Coronapandemie sind in Europa die Theater geschlossen. Mit einer Ausnahme: In Spanien dürfen die Bühnen unter Auflagen öffnen. Die Ausnahmesituation hat auch zu einem anderen Blick auf die Kultur geführt, so der Journalist Justo Barranco.
Kein Publikumsbetrieb an den großen Stadt- und Staatstheatern bis mindestens April. Das war in dieser Woche die Meldung aus mehreren Bundesländern, darunter Berlin, Hessen, Baden-Württemberg und Sachsen. Es scheint absehbar, dass es bald für ganz Theater-Deutschland heißen wird: Bis Ostern bleibt alles dicht.
Ganz anders sieht es dagegen in Spanien aus. Im Land, das noch im Frühjahr zu den am schwersten von Corona betroffenen zählte, haben die Theater trotz steigender Infektionszahlen weiterhin geöffnet. Seitdem am 15. Januar auch im Nachbarland Portugal die Kultur geschlossen wurde, sind die Spanier mit dieser Praxis europaweit allein.
Besseres Standing als vor der Krise
Justo Barranco ist Kulturredakteur und Theaterkritiker bei der in Barcelona ansässigen Tageszeitung "La Vanguardia". Er erklärt, dass der fortgesetzten Öffnung der Theater in Spanien ein harter Kampf vorausgegangen ist:
"Von März bis Mitte Juni waren die Theater überall geschlossen und dann noch einmal für drei Wochen im November in Katalonien, während sie in Madrid geöffnet waren. Im April, also einen Monat nach Beginn der Krise, gab es eine Intervention des ehrlich gesagt etwas unerfahrenen Kulturministers. Der wollte wohl ein bisschen klug daherkommen und zitierte einen Satz von Orson Welles: ‚Erst das Leben, dann die Theater und das Kino.‘ Das war natürlich überhaupt nicht der richtige Moment, das zu sagen. Denn was er meinte, war: Es gibt jetzt kein Geld für die Kultur. Der Kultursektor reagierte darauf mit einem Streik.
Zuvor hatte es jede Menge kostenlose Onlineangebote gegeben. Jetzt gab es also einen Kultur-Blackout. Das war der Beginn eines wirklich langen Kampfes. Mittlerweile würde ich sogar sagen, dass die Kultur in Spanien nach all diesen schmerzlichen Erfahrungen einen höheren Stellenwert genießt als zuvor."
Dabei sei es bemerkenswert, dass mehrere spanische Regionalregierungen die Kultur erstmals als "essenziell" bewerten würden und auch der rechtliche Status von Schauspielenden diskutiert werde. Das sei nötig, denn schließlich seien in Spanien, anders als im deutschen Ensembletheater-System, sämtliche Schauspielerinnen und Schauspieler freischaffend beschäftigt.
Auf Sozialleistungen angewiesen
Wegen der eingeschränkten Platzkapazitäten der Theater, die nicht mehr als 50 Prozent ihrer Sitze verkaufen dürfen, liefen viele Produktionen nun zudem viel länger als die geplanten drei Monate. Das führe dazu, dass viele Schauspielende überhaupt keine neuen Aufträge mehr bekämen, wie Barranco erläutert:
"So haben die Regionalregierungen schließlich doch einige Rettungsleinen ausgeworfen, die zwar nicht großartig sind, aber immerhin einen Unterschied machen. Aber ehrlich gesagt, gibt es immer noch viele Menschen, die sehr leiden und die von den Sozialleistungen ihrer Kommunen abhängig sind."
Dennoch erstaunt den Journalisten der Perspektivwechsel, denn bisher sei die Kultur in Spanien immer mit "Unterhaltung" gleichgesetzt worden. Nun zeige sich, dass Schauspielerinnen und Schauspieler nicht bloß die Stars aus dem Fernsehen seien, sondern viele Menschen, "die alltägliche Bedürfnisse haben und die im gegenwärtigen System nicht gerade an erster Stelle stehen".
Mehr Geld oder Schließung für immer
Dass es gelungen sei, die Theater bislang trotz hoher Neuinfektionszahlen offen zu halten, habe auch damit zu tun, dass die Kulturszene in Spanien mit einer Stimme gesprochen habe. Eine Debatte um Öffnen oder Schließen wie in der deutschen Theaterszene habe es dort nicht gegeben, so Barranco:
"Ich würde eher sagen, hier gab es eine echte Koalition der meisten Kulturzweige. Nicht nur der Theater, sondern auch der Kinos und Musikveranstalter. Sie haben einen Zusammenschluss gebildet, um mit der Kulturverwaltung zu sprechen. Eine Debatte wie in Deutschland hat es hier eher nicht gegeben. Auch weil das Geld, das die Kultur normalerweise bekommt, so gering ist. Aber wenn die Häuser im Moment nur vom Markt abhängig wären, müssten viele schließen. Es gab also nur die Lösung: Entweder es gibt mehr Geld und bessere Bedingungen durch die Regierung oder man kann für immer dichtmachen."
(jeb)