Geoffroy de Lagasnerie: Denken in einer schlechten Welt
Aus dem Französischen von Felix Kurz
Matthes & Seitz, Berlin 2018
120 Seiten, 15 Euro
Die politischen Pflichten der Intellektuellen
Die Intellektuellen müssten ihre Stimme erheben und die Verhältnisse infrage stellen. Diesem "linken" Verständnis widmet der französische Soziologe Geoffroy de Lagasnerie seinen Band "Denken in einer schlechten Welt". Offen bleibt dabei, was denn genau falsch läuft.
Die Lage ist ernst. Wir müssen was tun. Besonders die Intellektuellen sind jetzt gefragt, die Schriftsteller und Künstler und Wissenschaftler. Sie dürfen sich nicht mehr darauf zurückziehen, dass ihre Tätigkeit zweckfrei ist und nur sich selber genügt. Sie dürfen die Verhältnisse nicht nur beschreiben, sie müssen sie "destabilisieren".
So lautet die Diagnose, die der französische Soziologe Philosoph Geoffroy de Lagasnerie in seiner kleinen Schrift "Denken in einer schlechten Welt" aufgestellt hat: ein munteres, erzürntes, lesenswertes Buch eines jungen – 1982 geborenen – Wissenschaftlers, der sich selber dezidiert als links versteht und der die anderen Angehörigen seines Berufsstands wieder auf das politische Engagement verpflichten will; eine "ethische Aufgabe", sagt er, die sich jedem stellt, der überhaupt schreibt, denkt und forscht. Dabei will er vor allem an die klassischen Werke der Frankfurter Schule anschließen, an Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, aber man kann das Büchlein natürlich auch als Variation der 11. These über Feuerbach von Karl Marx verstehen: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern."
Warten auf die Konkretisierung
Dagegen kann man erstmal nichts haben. Gerade wenn man sich jetzt in Deutschland unter den Philosophen umschaut, stellt man ja fest, dass bei ihnen vor allem beklagenswertes Schweigen zu den politischen Problemen der Gegenwart herrscht. Ein junger Soziologieprofessor, der das ändern will, ist herzlich willkommen.
Doch stellt sich beim Lesen seines Pamphlets schnell auch eine gewisse Ungeduld ein. Irgendwann wüsste man gerne genauer: Was ist denn nun das Schlechte an der schlechten Welt? Hier bleibt die Schrift, um es vorsichtig zu sagen, ungenau; die deutlichste Beschreibung der Lage ist dem Klappentext vorbehalten.
Da ist von triumphierenden "Rechtspopulisten und Rassisten" die Rede, von "Homophobie und religiösem Fundamentalismus auf dem Vormarsch". Im Text findet sich davon aber nichts wieder, der intellektuelle Gegner wird nicht benannt, die aktuelle politische Lage mit ihren – gerade, wenn man sich auf das alte Links-Rechts-Schema verlässt – unübersichtlichen Frontverläufen wird nicht einmal ansatzweise analysiert.
Sein Thema ist die ökonomische Ungleichheit
Engagiertes Denken müsse sich dem Kampf gegen "Ausbeutung" widmen, heißt es an einer Stelle immerhin mal. Hier versteht man, dass es Lagasnerie vor allem um ökonomische Ungleichheit geht. Ob aber – zum Beispiel – homophobe Diskriminierung verschwindet, wenn es das kapitalistische Wirtschaftssystem nicht mehr gibt, ist alles andere als ausgemacht. Ist es nicht vielleicht sogar so, dass gerade in den kapitalistischen Gesellschaften die sexuelle Emanzipation so fortgeschritten ist wie nirgendwo sonst?
Dass es unterschiedliche Arten der Emanzipation gibt, die sich zueinander vielleicht sogar in einem widersprüchlichen, widerstreitenden Verhältnis befinden – das kann Lagasnerie aber nicht in den Blick bekommen, weil man sich als engagierter Denker eben der "schlechten Welt" im Ganzen, als "Totalität" entgegenstellen muss. Das geht nur, wenn man sich in die Vogelperspektive desjenigen imaginiert, der alles überblickt und deswegen zweifelsfrei weiß, woraufhin die Geschichte der Menschheit am Ende hinausläuft. In den Unschärfen der Analyse finden sich so auf ungute Weise schlechte Gepflogenheiten des Vulgärmarxismus kaschiert, die eschatologische Geschichtsphilosophie und die Figur des Meisterdenkers, und wenn man sich das in all seinen Konsequenzen vor Augen führt, dann wirkt dieser muntere junge linke Denker dann doch plötzlich wieder ganz alt.
Dass es unterschiedliche Arten der Emanzipation gibt, die sich zueinander vielleicht sogar in einem widersprüchlichen, widerstreitenden Verhältnis befinden – das kann Lagasnerie aber nicht in den Blick bekommen, weil man sich als engagierter Denker eben der "schlechten Welt" im Ganzen, als "Totalität" entgegenstellen muss. Das geht nur, wenn man sich in die Vogelperspektive desjenigen imaginiert, der alles überblickt und deswegen zweifelsfrei weiß, woraufhin die Geschichte der Menschheit am Ende hinausläuft. In den Unschärfen der Analyse finden sich so auf ungute Weise schlechte Gepflogenheiten des Vulgärmarxismus kaschiert, die eschatologische Geschichtsphilosophie und die Figur des Meisterdenkers, und wenn man sich das in all seinen Konsequenzen vor Augen führt, dann wirkt dieser muntere junge linke Denker dann doch plötzlich wieder ganz alt.