Geografie

Bayern ist der Nabel der EU

Mit einer Steinsäule markiert ist am 01.04.2015 bei Westerngrund im Landkreis Aschaffenburg (Bayern) der geografische Mittelpunkt der Europäischen Union.
Mit einer Steinsäule markiert ist am 01.04.2015 bei Westerngrund im Landkreis Aschaffenburg (Bayern) der geografische Mittelpunkt der Europäischen Union. © picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildebrand
Von Michael Frantzen |
In Bayern liegt der Mittelpunkt zwar nicht der Welt, aber immerhin der Europäischen Union - zumindest geografisch. Darauf weist ein Denkmal in einem unterfränkischen Dorf hin. Doch dieser Status ist vergänglich - wie bereits die Hessen erfahren haben.
Dieter Schornick: "Wir haben hier die Mittelpunkts-Koordinaten: 90 Grad, 15 Minuten östlicher Länge. Und 50 Grad, sieben Minuten nördlicher Breite."
Was sich der eine oder andere Bayer insgeheim immer schon gedacht hat - seit zwei Jahren ist es amtlich: Bayern ist der Nabel Europas.
"Nicht Europas. Das muss ich immer wieder betonen. Sondern der EU."
Dieter Schornick verzieht das Gesicht. Schlamperei – das geht gar nicht. Erst recht nicht, bei seiner "Mission": der Europäischen Union. Samt ihres EU-Mittelpunkts. In Westerngrund, dem 1900-Seelen-Dorf in Unterfranken. Es ist Donnerstag-Vormittag, kurz nach zehn. Unten, auf der kurvenreichen Schulzengrundstraße, versucht sich ein Lieferwagen an einem halbwegs waghalsigen Wendemanöver; oben, am geografischen Mittelpunkt der Europäischen Union, inspiziert der graumelierte Rentner die Blumenbeete. Wenn man so will, ist das EU-Denkmal sein Baby. Zusammen mit einer Handvoll Mitstreiter hat der Ex-Lobbyist der Elektroindustrie in Brüssel die "Interessensgemeinschaft EU-Mittelpunkt" gegründet – und dafür gesorgt, dass einen auf der abschüssigen Wiese am Waldrand keine Kühe mehr begrüßen, sondern die EU-Fahne und EU-Poesie.
"So! Das ist mittlerweile das fünfte Mittelpunkts-Buch. Da gibt’s schon einen Eintrag vom 20.9.: 'Leise flattern die Fahnen im Wind. Über der Wiese, wo gestern noch der Reiher stand. Schön ist es am Mittelpunkt.'"
Schön ist es in der Tat – trotz des Dröhnens der Flugzeuge. Der Frankfurter Flughafen liegt keine fünfzig Kilometer entfernt. Ansonsten aber: Idylle pur. Dementsprechend angetan sind die in- und ausländischen Besucher: Aus dem Ruhrgebiet, der Mongolei, China. Nur die Gemeinde will nicht so recht einstimmen in den Chor der EU-Begeisterten.
"Da würden wir uns noch etwas mehr Unterstützung wünschen. Wir haben alles angelegt. Die Steine. Ich hab erst vor einer Woche die Blumen selbst angepflanzt. Im Sommer wird gegossen, werden Blumen gegossen. Und da wünschen wir uns einfach, dass die Gemeinde zum Beispiel so'n großen Wasserkanister aufstellt."
"Ein Geschenk auf Zeit"
Tut sie aber nicht. Schornick, der zugezogene Pfälzer, schnauft leise. So richtig schlau wird er aus den Leuten hier nicht. Lauter Bedenkenträger. Dabei hätte alles so schön sein können. Vor zwei Jahren – da war seine Welt noch in Ordnung, die weiß-blaue. Niemand geringeres als der Ober-Franke schlechthin, CSU-Heimatminister Markus Söder, weihte in einer offiziellen Zeremonie den EU-Mittelpunkt ein. Eine klassische Win-Win-Situation: Söder hatte das, was er als Möchtegern-Ministerpräsident am liebsten hat: Publicity. Und Schornick die Vision, den "EU-Mittelpunkt" zum touristischen Hotspot zu machen. Doch weit gefehlt.
"Der EU-Mittelpunkt?! Das spielt für die Einheimischen hier keine Rolle. Man sieht das als eine vorübergehende Sache an. Und wer halt nicht in Europa unterwegs ist, von dem kann man natürlich wenig Verständnis erwarten."
Brigitte Heim: "Europa?! Wir sind zwar auch Europa, aber das EU-Parlament oder jetzt auch Brüssel oder Straßburg sind doch ziemlich weit weg."
Für Brigitte Heim. Seit gut anderthalb Jahren hat die Betreiberin der Brotzeitstube "Zum Kuhstall" im Rathaus von Westerngrund das Sagen.
"Ich bin ja sozusagen ein Exot hier in der Gegend. Erst mal nicht gebürtig. Dann 'ne Frau. Dann bin ich auch parteilos und nicht CSU."
Anfangs taten sich die CSU-Honoratioren etwas schwer mit der "Exotin", aber das hat sich mit der Zeit gelegt. Gibt ja auch Dringlicheres als politische Farbenspielchen. Die Flüchtlingskrise etwa, die auch vor Westerngrund nicht Halt macht. Oder den Bevölkerungsschwund.
"Deshalb ist es halt schon so, dass die Feuerwehr genauso leidet wie jetzt der Fußballverein. Wir haben jetzt zum Beispiel 'nen Zusammenschluss von unseren zwei Fußballvereinen. Das wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen."
Zwei Mal die Woche hat Heim Bürger-Sprechstunde - und kümmert sich um das, was halt so anfällt. Den gelben Sack verteilen – ein Euro das Exemplar: Auch das gehört zu Heims Aufgaben. Für den EU-Mittelpunkt bleibt da wenig Zeit. Und Muße.
"Dass es Postkarten oder Stempel oder so was gibt – das haben wir nicht. Ich denk', das lohnt sich dann nicht so. Wenn, dann bräuchte man jemanden, der den ganzen Tag vor Ort ist. Und so groß ist der Zulauf dann doch nicht."
Am EU-Nabel.
"Ich mein', wir wissen von Anfang an, dass das ein Geschenk auf Zeit ist. Der Mittelpunkt."
Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU, M) steht neben anderen Vertretern aus der Politik unter Fahnen.
Unter anderen Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU, M) enthüllt am 31.07.2013 in Westerngrund (Bayern) ein Denkmal. Nach dem Beitritt Kroatiens liegt der Ort im Mittelpunkt der EU.© dpa / picture alliance / Ralf Hettler
In Hessen gab es neben dem Denkmal eine Merchandising-Linie
Mit "Geschenken auf Zeit" kennen sie sich auch im benachbarten Gelnhausen aus – auf der anderen Seite des Kinzigtals, im Hessischen.
Simone Grünewald: "Richtig! Wir waren einige Jahre Mittelpunkt der Europäischen Union."
So ganz kann es Simone Grünewald, die Leiterin der Touristen-Information, immer noch nicht fassen. Lief doch alles wie am Schnürchen. Neben einem EU-Denkmal gab es eine Merchandising-Linie – mit "Meery", dem Mittelpunkts-Schaf als Maskottchen. Auf T-Shirts, Kappen, Tassen.
"Kamen auch Gäste, die sich den Mittelpunkt der Europäischen Union angucken wollten. Haben Wanderungen dorthin angeboten. Aber leider ist das Thema jetzt für uns erledigt."
Der mittelalterlichen Idylle in der Barbarossa-Stadt tut das keinen Abbruch. Enge Gassen gibt es hier, samt windschiefer Fachwerkhäuser, die sich aneinander ducken. Als eine von wenigen deutschen Städten blieb Gelnhausen im Zweiten Weltkrieg vom Bombenhagel der Alliierten verschont. Ist ja auch fast schon ein Alleinstellungsmerkmal, gibt sich Grünewald einen Ruck. Genau wie das zweite Highlight zwei Stockwerke höher: Das riesige "begehbare Ohr". Es erinnert an den Gelnhäuser Tüftler Philipp Reis, der das Telefon erfand, in dem er das menschliche Ohr imitierte. Die Werbefrau strahlt. Was zum Anfassen sei das – und viel "sinnlicher" als so etwas Abstraktes wie ein EU-Mittelpunkt.
"Spektakulär ist es aber erst, wenn man da reinkrabbelt. Sie müssen jetzt also die Ohrmuschel erklimmen. - Wenn sie den Knopf so langsam drücken. Fest drücken! Und wieder loslassen. Als wenn sie 'ne Schallwelle wären. Das können Sie jetzt mehrfach so ausprobieren."
Keine fünfhundert Meter sind es Luftlinie von Stephan Biebrichs Bäckerei bis zum EU-Mittelpunkt. Das bleibt nicht ohne Folgen – für den Bäckermeister und sein Brotsortiment.
"Wir haben da so 'nen EU-Mittelpunkts-Brot gemacht. Das machen wir eigentlich nicht regelmäßig, aber wochenends wird das schon öfters gemacht."
Das Brot aus Sauerteig und Koriander. Geht nicht gerade weg wie warme Semmel. Mit neumodischem Kram kann Biebrich in Westergrund niemanden kommen – erst recht nicht der Frau Mutter.
Waltraud Biebrich: "Nein. Näh! Überhaupt nicht."
Antwort vom Bundeskanzleramt
Eigentlich ist Waltraud Biebrich schon Rentnerin, aber den ganzen Tag Däumchen drehen – das ist nichts für die resolute Fränkin. Noch immer steht sie früh morgens auf, um die ersten Kunden um halb sechs zu bedienen. Da hat sich nichts geändert in den letzten vierzig Jahren. Im Dorf schon. Biebrich schaut durch das Fenster nach draußen. Drüben, hinter der Wiese, meint sie und zeigt nach links: Das Restaurant dort: "Zur neuen Welt": Steht schon seit zwei Jahren leer. Wieder eine Gaststätte weniger. Für die Touristen.
"Jetzt haben wir nur eine noch. Die haben 17 Uhr auf. Wo sollen denn die Leute hier irgendwo essen gehen? Ich hab schon zu meine Söhne gesagt: Mir mache die Küche hier als Gasthaus – hier grade durchbrechen. Wir mache oben das Büro im ersten Stock. Ja! Das is' 'ne Idee."
Ideen Marke Eigenregie: In Westerngrund ist das nicht untypisch. Meist aber wird nichts daraus. Weil die Gemeinde mauert und lieber ihre Ruhe hat, moniert Stephan, Waltraud Biebrichs Sohn. Die Sache mit der Hütte oben am EU-Mittelpunkt etwa: Wurde abgeschmettert.
"Das ist so'n Schausteller. Der hätte sich da so 'ne Bude hin gebaut. Hätte da bei irgendwelchen Events was bezahlt dafür. Um die Leute zu verköstigen. Aber das wurde ihm nicht genehmigt."
Dieter Schornick: "Man hat Angst, dass dann hier Abfälle an der Hütte liegen."
Ergänzt Dieter Schornick. Der Mann von der Interessengemeinschaft schüttelt den Kopf. So ist das halt, wenn man noch nichts von der weiten Welt gesehen hat - der europäischen. An ihm liegt es nicht. Drei Mal schon haben Schornick und seine Mitstreiter vom Aschaffenburger Ableger der "Europa-Union" dieses Jahr Reisen nach Brüssel organisiert.
"Ich sage immer: Wer noch nie 'ne Mango gegessen hat, kann nicht sagen, wie 'ne Mango schmeckt."
Das Interesse an der Brüsseler Mango – in Westerngrund hält es sich in Grenzen. Doch klein beigeben: So etwas kommt für einen überzeugten Europäer wie Schornick nicht in Frage.
"Wir haben auch das Bundeskanzleramt angeschrieben. Und die haben dankenswerterweise auch alle geantwortet."
Na, immerhin.
"Dass sie terminlich verhindert waren."
Undank ist bekanntlich der Welten Lohn. Im Leben im Allgemeinen. Und in Westerngrund im Speziellen, dem bayrischen Nabel der EU.
"Ja."
Mehr zum Thema