Geografie nach dem Brexit

Der neue Mittelpunkt der Europäischen Union

07:24 Minuten
Auf einem Acker steht ein Denkmal mit einem großen Stein, von dem ein rot-weißer Stab schräg aufragt, daneben eine halbrunde Sitzbank und frisch gepflanzte Bäume.
Wird von fern oft für eine Bahnschranke gehalten: Das Zeichen für den geografischen Mittelpunkt der EU nach dem Brexit - auf einem Acker nahe dem unterfränkischen Gadheim. © picture alliance / dpa / foto2press
Von Tobias Krone |
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Bald wird im unterfränkischen Gadheim groß gefeiert: Nach dem Brexit ist der Ortsteil der Kleinstadt Veitshöchheim neuer geografischer Mittelpunkt der EU. Die Faschingshochburg bekommt eine weitere Attraktion – doch die könnte bald wieder weg sein.
Der Nabel der Europäischen Union, er liegt künftig auf einem Acker, wo im Jahr davor noch Raps wuchs. In einem Felsbrocken steckt ein rotweißer Stab – man könnte es von fern für eine Grenzschranke halten. "Bahnschranke?, haben manche mich gefragt. Ist das jetzt eine Bahnschranke?", erzählt Landwirtin Karin Keßler. "Nee", habe sie geantwortet. "Eigentlich ist es das Zeichen für einen Vermessungsstab", sagt Keßlers Nachbarn Walter Dieck. Aber das werde wohl noch verändert. "Wahrscheinlich, dass die Koordinaten da oben draufstehen werden, weil das ja doch oftmals missverstanden wird", fügt Karin Keßler hinzu.
Auf Keßlers Feld ist künftig der geografische EU-Mittelpunkt, den Schüler der örtlichen Landwirtschaftsschule markiert haben. Zusammen mit ihrem Nachbarn Walter Dieck steht sie in der Sonne, 200 Meter von dem Weiler entfernt, der mit dem Austritt der Briten aus der Europäischen Union berühmt wird: Gadheim, drei Straßen, 80 Einwohner.
"Ende März 2017 bin ich in der Bäckerei in der Nachbarortschaft angesprochen worden. Da hat die Juniorchefin zu mir gesagt: 'Na, ihr in Gadheim, ihr werdet ja jetzt was ganz besonderes'. Da habe ich gesagt: 'Aha, wieso?' Dann hat sie gesagt: 'Ja, zu euch soll ja jetzt der künftige EU-Mittelpunkt hinkommen.' Und ich bin aus der Bäckerei rausgegangen und habe mir gedacht: 'Na, die werden auch immer kreativer mit ihren Aprilscherzen.'"
Nein. Kein Aprilscherz. Auch wenn Gadheim ein Ortsteil von Veitshöchheim ist, eine der wenigen Fasnachtshochburgen im Bundesland Bayern, die bekannt ist für ihre Prunksitzung im Bayerischen Fernsehen – und für ihren regelmäßigen Gast in aufwendigen Kostümen: Ministerpräsident Markus Söder.
Das Männerballett "Turedancer" steht bei der Fernseh-Prunksitzung "Fastnacht in Franken" in Veitshöchheim auf der Bühne.
Bislang ist Veitshöchheim - zu dem Gadheim gehört - vor allem für seinen Fasching und die dazugehörige Fernseh-Prunksitzung bekannt.© picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand
Aber wie gesagt: kein Scherz. Das Pariser Institut d'électronique et d'informatique Gaspard-Monge hat den Mittelpunkt genau berechnet – und hier auf dem Acker verortet.
"Mein Sohn hat sich dann die Koordinaten besorgt und schickt mir dann per Whatsapp ein Bild mit einem Punkt drauf und sagt: Hier kommt der künftige EU-Mittelpunkt hin. Und ich schau es mir an und sag: Oh, das ist ja bei meinem Nachbarn auf dem Acker. Kam die Nachricht zurück von meinem Sohn: Nein. Das ist bei dir auf'm Acker."
Die EU kennt man hier in Gadheim vor allem für ihre Kontrolle von Landwirten – für die Düngeverordnung und die Überprüfung von Förderanträgen.
"Vor allen Dingen dass die Quadratmeter stimmen, weil, die können das bis auf zwei drei Quadratmeter komplett nachmessen, per Satellit."
Und nun beschert ihnen die EU auch noch einen Mittelpunkt. Leichte Verunsicherung im Dorf. Denn es ist ja so: Eine Verschiebung des EU-Mittelpunkts passiert nicht täglich. Und auch in Gadheim fehlte verständlicherweise die Routine damit. Was macht so ein Nabel des Kontinents mit einer Ortschaft? Bürgermeister Jürgen Götz machte sich schlau – und rief im Spessart an.
"Ja, ich habe mit dem derzeitigen Mittelpunkt im Westerngrund angerufen und mit der Kollegin dort gesprochen. Dort liegt so eine Art Gipfelbuch, wo sich die Besucher dort eintragen können. Ich unterstelle jetzt mal, dass sich nicht alle, die da hingehen und sich das anschauen, dort auch eintragen in diesem Buch. Aber dort gab es in den letzten vier Jahren 10.000 Einträge aus aller Welt. Das zeigt natürlich, dass Leute gezielt auch dort hingehen, sich das anschauen, auch dafür interessieren."

Ulk-Video im Netz kam gut an

Also legte die Gemeinde einen Feldweg an. Und mietete ein paar Quadratmeter um den Mittelpunkt herum, baute eine Sitzecke und drei Fahnenmäste. Die europäische, die deutsche und die von Veitshöchheim, die stark an die spanische erinnert. Auch Infotafeln soll es noch geben. Nebenan bei Karin Keßler wird es blühen. Kein Raps, keine Kartoffeln – Bienenweide.
"Für Insekten. Das ist eine Insektenwiese. Also nicht nur Bienen, sondern auch andere."
Multikulti auf dem Europa-Feld, sozusagen. Dass auch die Gadheimer Teil der fränkischen Fasnachts-Kultur sind, will zwar im Ortsteil selbst keiner so richtig zugeben, aber über sich selbst lachen, das können sie schon. So reagierten sie auf die Ankündigung 2017 mit einem kleinen Ulk-Video im Netz, in dem ein paar Gadheimer stolz den Nabel Europas mitten auf dem Acker präsentieren – in waschechtem Populisten-Englisch.
"You should know that Gadheim will become a great center of the EU – a great center, really terrific!"
Die Initiatorin Gunila Weidner, Anwältin von Beruf, erklärt lächelnd, wie es dazu kam: "Ich hatte so den Eindruck, das mit dem Brexit ist völlig absurd." Es könne einfach nicht sein, dass sich Großbritannien entschließt, die EU zu verlassen. "Und ich dachte mir: Wie merkwürdig, dass jetzt ausgerechnet Gadheim der Gewinner des Brexits sein soll. Ich glaube nicht, dass jetzt Großbritannien der Gewinner sein wird oder die EU – sondern am ehesten unser kleines Gadheim."
Denn Gadheim wird jetzt immerhin berühmt. Das Video kam gut an in der Region. Über 6000 Mal wurde das Video schon geguckt, in dem sich die Gadheimer den Londoner Investmentbanken als Alternativ-Standort anbieten und stolz solche Sehenswürdigkeiten wie die Fußgängerampel in der Mitte des Weilers anpreisen:
"Instead of Smog and air pollution, we have one traffic light. A really beautiful traffic light. You should come and see it – which helps us citizens to cross the street."

Schluss mit Späßen über den Brexit

Ein großer Gag. Der allerdings auch seine Grenzen hat, findet Hobby-Filmerin Gunila Weidner.
"Zwischendrin hatte ich auch tatsächlich überlegt, ob man auch eine Fortsetzung drehen sollte. Aber dann hatte ich den Eindruck, dass das mit der Realität, die in Großbritannien passiert, nicht mehr zu toppen ist durch irgendwelche Späße. Ich sage das mit einem weinenden Auge. Insofern höre jetzt auch ich auf mit Späßen über dieses Thema."
Und das meinen die Gadheimer ernst: Kein Brexit wäre ihnen allemal lieber gewesen. Auch wenn manche Medien sie für andere Botschaften einspannen wollten.
Bei einem Fernsehsender habe sie den Eindruck gehabt, erzählt Gunila Weidner, dass ein Fernsehsender "ein bisschen andere Antworten von uns wollte, als wir ihm gegeben haben". Das sei gewesen, als sich die Brexit-Verhandlungen schon sehr lange hingezogen hatten. "Da wurde uns so ein bisschen nahegelegt, Entrüstung zu zeigen, dass Gadheim jetzt endlich der Mittelpunkt wird. Die Briten sollen unbedingt austreten, und wir sind ungeduldig, wir wollen jetzt endlich unser Fest und so weiter." Das habe dem Sender aber niemand gegeben. "Wir haben alle Bedauern geäußert, dass Großbritannien die EU verlassen möchte."
Dieser TV-Beitrag sei dann nicht gelaufen, erinnert sich Gunila Weidner. Brexit hin oder her. Das Gadheimer Dorfleben profitiert von dem neuen Nabel Europas.
Auf einem Platz im Veithshöchheimer Ortsteil Gadheim steht eine Gruppe Erwachsene und Kinder und deutet auf eine gehisste Flagge der Europäischen Union. 
Bereits 2017 hat Gadheim die EU-Flagge gehisst - mit Landwirtin Karin Keßler (5.v.r.) und dem Veitshöchheimer Bürgermeister Jürgen Götz (4.v.l.).© picture alliance / dpa / Daniel Karmann
Manche Gadheimer nutzen die neue geschaffene Sitzecke unter den Fahnen einfach, um Picknick zu machen. Vom Mittelpunkt Europas hat man bei Sonnuntergang einen schönen Blick auf das Abendland des Maintals. Ein Gewinn fürs Dorf. Der wohl nicht für die Ewigkeit ist. Wenn sich der Mittelpunkt, etwa durch einen möglichen EU-Beitritt Montenegros in den kommenden Jahren, wieder woanders hin verschiebt, dann ließe sich diese Symbolstätte wieder zurückbauen. Sagt Bürgermeister Jürgen Götz.
"Das wird ja nicht ewig der Mittelpunkt bleiben. Dass man dann auch in einer gewissen Zukunft auch wieder ganz normales Ackerland dort betreiben kann."
(abr)
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