Georg-Büchner-Preisträger Clemens J. Setz

Mit Sprachkunst und verstörender Drastik

29:37 Minuten
Clemens J. Setz, schwarze Haare und langer schwarzer Bart, steht hinter einem Rednerpult.
Clemens J. Setz bei der Verleihung des Berliner Literaturpreis. © imago / gezett
Moderation: Andrea Gerk |
Audio herunterladen
Der Schriftsteller Clemens J. Setz liest das Werk eines Kollegen immer wieder: das von Georg Büchner. Da passt es gut, dass Setz nun den Büchner-Preis bekommt. Ein Gespräch über Woyzeck und Krähen, Gedichte und Twitter und die Seele der Welt.
Tiere, vor allem Krähen und Ziegen, haben es dem österreichischen Schriftsteller Clemens J. Setz besonders angetan. Die Ziege mag er vor allem wegen ihrer Sturheit. Setz erzählt von einem Videoclip, in dem sich eine Ziege irgendwo in den USA in ein Polizeiauto verirrt hat und einfach anfängt, die Papiere und Strafzettel zu fressen, die darin herumliegen. Etwas von dieser Sturheit wünsche er sich manchmal als Schriftsteller, so Setz.
An Auszeichnungen müsste sich der Autor mittlerweile fast gewöhnt haben. Erst im letzten Jahr bekam Setz den Kleist-Preis, der ihm aus Pandemiegründen in diesem November verliehen wird. Dass er so früh in seiner Karriere auch den Büchner-Preis bekommen würde, damit hatte er allerdings nicht gerechnet. Dieser sei doch eine Ehrung für das Lebenswerk: "Der Büchner-Preis ist natürlich dieses große, im deutschen Sprachraum das Lebenswerk ehrende Monument. Und das fühlt sich natürlich einerseits wunderbar an und freut mich wirklich, und andererseits ist es auch ein bisschen unheimlich."

Eine Schwäche für Büchner

Texte von Georg Büchner zu lesen, bereite ihm immer wieder Freude. "Das ist Literatur, die ganz frisch bleibt", sagt er, und dass er vor allem Büchners Dramenfragment "Woyzeck" immer wieder lese. Seine Schwäche für Büchner könnte mit seinem Germanistikstudium zusammenhängen: "Was mir auffällt: Ich nehme ihn nicht als den Revolutionär wahr, der er ja ganz stark war. Interessanterweise denke ich nie daran, dass er real verfolgt war, dass er wirklich vor Inhaftierung und Folter fliehen musste. Und dass er eine ganz berühmte politische Kampfschrift geschrieben hat."

Volapük und andere Plansprachen

Büchner hat ein schmales Werk hinterlassen, während das Werk von Clemens J. Setz bereits recht umfangreich ist, mit Romanen wie "Indigo" oder "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre". 2020 erschien eine Art erzählendes Sachbuch "Die Bienen und das Unsichtbare" über sogenannte Plansprachen, künstliche Sprachen wie Esperanto oder Volapük. An denen gefallen Setz vor allem die Wortverwechselungen, die auf den ersten Blick wie Nonsens wirken. Doch wie kommt man als Schriftsteller überhaupt auf so ein Thema?
Er habe sich darüber gewundert, sagt Setz, dass es in den erfundenen Sprachen auch Literatur gebe, "unzählige Romane und Dramen und ganz viele Gedichte". Und so habe er sich gefragt, wer so etwas schreibe und warum:
"Schreiben die das füreinander? Schreiben die das nur für sich allein? Was bedeutet es, in einer Sprache zu schreiben, die ein Mensch erfunden hat? Was bedeutet es, in einer Sprache Gedichte zu schreiben, die kein Mensch mehr lesen kann? Oder ganz wenige? Und ist es etwas Anderes, als wenn man ein Gedicht auf Englisch schreibt oder auf Französisch oder auf Jiddisch oder in einer Sprache, die nur von einer kleinen Gemeinschaft gesprochen wird wie Kikuyu? Ich habe mich immer wieder dabei ertappt, wie ich darüber recherchiert habe und vor allem, wie ich in Tagträumerei verfallen bin. Wenn man das ein bisschen länger macht, dieses Geschäft des Bücherschreibens, dann merkt man: Das ist eine Geschichte, das willst du erzählen."

Wenn die Seele der Welt aufblitzt

Die Bücher von Setz sind alle sehr unterschiedlich. Der Roman "Indigo" hat etwas Science-Fiction-Artiges, aber auch Dokumentarisches. Es geht darin um Menschen, die am Indigo-Syndrom leiden. Wenn ihnen jemand zu nahe kommt, dann wird ihnen schlecht oder sie bekommen starke Kopfschmerzen. Das erlebt ein Mathematiklehrer namens Clemens Setz, der in einem Internat mit lauter Indigo-Kindern arbeitet. Da Setz nicht autofiktional schreibt, stellt sich die Frage: Was ist das für ein Clemens Setz im Roman?
"Das war eine Gestalt", erzählt Setz, "die mir deswegen als die plausibelste erschienen ist, weil sie der absolut auf perfekte Weise falsche Mann für den Job war." Setz interessieren keine Geschichten, in denen jemand wie in einer Detektivgeschichte eine Aufgabe mit Bravour löst. "Ich wollte etwas zeigen, was viel realistischer ist, nämlich dass man keine Ahnung hat. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen provokant oder morbid, es ist aber nicht so gemeint. Mein strukturelles Vorbild war ein Erlebnis in einer Recherche über den grässlichen Fall von Marc Dutroux, den Kinderschänder und Mörder. Und wenn man das zu recherchieren beginnt, merkt man, es ist bodenlos. Es geht immer weiter. Es gibt nie den Punkt, wo man sagt, jetzt sehe ich scharf, und das muss echten Ermittlern noch viel extremer gehen. Und das wollte ich nachbauen in dem Buch mit anderen Mitteln und in einem ganz anderen Milieu. Das ist eine unendliche Recherche, die niemals zum Ende kommt. Aber wo man die Seele der Welt aufblitzen sieht: So ist die Menschheit, so sind diese archetypischen, grauenvollen Unterströmungen."
Lustig findet Setz, dass das Buch teilweise im Jahr 2021 spielt, obwohl es neun Jahre vorher entstanden sei, und dass manches jetzt genau passe, "dieses Abstand-halten-müssen. Und dass Leute ansteckend sind." Er fühle sich wie ein Prophet, obwohl das Buch so nicht gemeint war.

Mit zwei Gehirnen denken

In dem fast tausendseitigen Roman "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" geht es um eine junge Frau, die in einem Wohnheim für behinderte Menschen arbeitet. Hier sei es dasselbe gewesen wie bei "Indigo", erzählt Setz:
"Ich brauchte da eine Figur, die intelligenter und sensibler ist als ich. Aber wie geht das? Das klingt komisch. Das sollte eigentlich nicht möglich sein, dass man jemanden erfindet, der klüger ist. Es geht aber, weil man plötzlich mit zwei Gehirnen denkt. Es ist ein vorübergehender künstlicher Effekt, der nichts damit zu tun hat, dass der Autor irgendwie genial ist oder so etwas. Drum ist auch das Erzählen so attraktiv, weil wir mit mehreren Gehirnen denken können. Es handelt sich um ein doppeltes Bewusstsein. Und so entsteht eine literarische Figur." Das mache die Figuren und das Medium Buch so faszinierend. Und für ihn als Autor bedeute es eine ständige Horizonterweiterung.

Gedichte auf Twitter

Konzentriert schreibt Setz rund zwei Stunden am Tag, außer, wenn es darum geht, ein Buch zu überarbeiten. Dann sei es schon mal mehr. Aber das seien kürzere Phasen. Dazu kämen Recherchen oder das literarische Auswerten von Erlebnissen in der wirklichen Welt.
Und in der digitalen. Facebook sei ihm zu blöd gewesen, eine ungute Sucht, sagt Setz. Twitter dagegen sei für ihn eine reale literarische Inspiration, was mit der kurzen Form zu tun habe. 2016/17 habe es eine Blütezeit der Dichtung auf Twitter gegeben. Die Feuilletons hätten davon aber gar nichts mitbekommen.

Von Krähen und Pferden

"Ich schreibe sehr gern gereimte Gedichte", sagt Setz. Die seien immer ein bisschen albern und passten deswegen gut auf Twitter. Wie dieses Gedicht:
Sehr hübsch sind Krähen
bevor sie entstehen, bevor sie Gott geknetet hat.
Wenn sie noch Moleküle sind,
verstreut in der Stadt, im U-Bahn-Wind.
Selbst die Wurst am Fensterbrett
und das Wasser in Pfützen und Seen -
alles nur Rohstoff, Eiweiß, Fett, Bausteine, baldiger Krähen.
Worüber er in seiner Büchner-Preis-Rede sprechen will, möchte Setz noch nicht verraten. Nur so viel:
"Es ist auf alle Fälle angelehnt an Woyzeck, an ein Element darin. Da gibt es das astronomische Pferd auf dem Jahrmarkt, das am Anfang eine emblematische Figur für die geknechtete Kreatur ist. Man weiß, das steht auch für das Schicksal von Woyzeck. Und davon ausgehend kann ich eine Geschichte erzählen, die ich immer schon erzählen wollte, die auch mit Pferden zu tun hat."
(DW)
Mehr zum Thema