100 Jahre politischer Mord in Deutschland

Gesinnungsterror gegen Pazifisten

05:16 Minuten
Medizinstudenten im Hörsaal der Charite in Berlin, circa 1935
Schwierige Umgebung für Gelehrte mit republikanischer Haltung: Medizinstudenten im Hörsaal der Charité in den 30er-Jahren in Berlin. © picture alliance / United Archives
Von Elke Kimmel |
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Anfang der 1920er-Jahre spitzt sich die Stimmung an den deutschen Universitäten zu. Pazifistisch und demokratisch gesinnte Gelehrte werden angefeindet und bedroht. Der Mediziner Georg Friedrich Nicolai verliert die Lehrbefugnis und geht ins Exil.
„Am Donnerstag, den 23. März um 1/2 3 Uhr fuhr der Zug aus der Halle, der Professor Georg Friedrich Nicolai der Stätte seines neuen Wirkens entgegentrug. Damit hat eine Tragödie ihren vorläufigen Abschluß gefunden, die trotz ihrer Ungeheuerlichkeit nie genug gewürdigt wurde. So sollen denn an dieser Stelle […] diesem Mann, der durch niederträchtige Methoden gezwungen worden ist, zum zweiten Male der Heimat den Rücken zu kehren, die Wünsche und Grüße nachgesandt werden, die er sich durch sein höchste Achtung heischendes Auftreten verdient hat.“
Die „Freiheit“, die Zeitung der unabhängigen Sozialdemokratie, die diesen Abschiedsgruß am 24. März 1922 druckt, spart nicht mit Lob über den ehemaligen Leibarzt der deutschen Kaiserin Auguste-Viktoria. Als Pazifist eckte Georg Friedrich Nicolai im Ersten Weltkrieg an und wurde – obschon promovierter Mediziner – als einfacher Krankenwärter eingesetzt. Er entzog sich den Schikanen der Militärs schließlich durch seine Flucht nach Dänemark.

100 Jahre politischer Mord in Deutschland
Eine Sendereihe von Deutschlandfunk Kultur in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung
Von Elke Kimmel

Nach dem Krieg sabotieren nationalistisch gesinnte Studenten seine Lehrveranstaltungen an der Berliner Universität. Und die Leitung der Hochschule stellt sich gegen ihn und entzieht ihm die Lehrbefugnis. Nicolai, zu diesem Zeitpunkt 45 Jahre alt, scheint am Ende seiner Karriere zu sein. Aber Mitte 1921 bietet sich ein Ausweg:

Der Pazifist im Exil. Professor Dr. Georg Friedrich Nicolai, der bekannte Berliner Physiologe und Universitätslehrer, hat einen Ruf an die Universität Cordoba, eine der ältesten und bedeutendsten Hochschulen Argentiniens, erhalten, und zwar als Ordinarius für Physiologie und Leiter des Physiologischen Instituts. An der Berliner Universität durfte Nicolai bekanntlich nicht lehren […], weil er Pazifist ist. Nun hat er in dem offenbar kultivierteren Südamerika ein Asyl gefunden.

Die sozialdemokratische Zeitung „Vorwärts“ am 8. Juni 1921

Angefeindet von Fachkollegen

„Die deutsche Republik hat es geduldet, daß monarchistische Professoren ohne Rückgrat, einem Republikaner, der im Gegensatz zu seinen Gegnern ein ganzer Mann war, die Heimat verleidet haben. In diesem Lande der potenzierten Mittelmäßigkeit ist allerdings für einen Mann kein Platz, der den Mut der eigenen Ueberzeugung und eine höhere Sittlichkeit besitzt. Aufgabe der deutschen Arbeiterklasse ist es nach wie vor, die Vorbedingungen dafür zu verschaffen, daß in dieser Republik ohne Republikaner nicht nur ein neuer Geist, sondern auch neue Männer an führender Stelle einziehen.“
So kommentiert die „Freiheit“ im März 1922. Der Mediziner Nicolai ist nicht der Einzige, der wegen seiner pazifistischen und republikanischen Haltung von den Fachkollegen und Universitätsleitungen angefeindet wird.

Gelehrte werden körperlich bedroht

So muss der angesehene Völkerrechtler Walther Schücking zunächst an der Handelshochschule in Berlin lehren, weil ihm eine ordentliche Professur verwehrt wird. Der Historiker Veit Valentin verlor schon im Ersten Weltkrieg seine Lehrbefugnis an der Freiburger Universität, weil er sich weigerte, alldeutsche Annexionspläne mitzutragen. Er wird in Deutschland nie einen ordentlichen Lehrstuhl bekommen.
Andere Gelehrte werden körperlich bedroht. Am 5. November 1931 berichtet der „Vorwärts“ von Angriffen auf einen sozialdemokratischen Professor an der Universität Halle und schlussfolgert:
„Man versucht den Gesinnungsterror, der in einem faschistischen Hitler-Deutschland herrschen würde, vorwegzunehmen. […] Jetzt sollte eigentlich jeder Hochschullehrer erkennen, wie die Lehrfreiheit im Dritten Reich aussehen wird.“

Georg Friedrich Nicolai stirbt in Chile

Während demokratische Gelehrte von Studenten bedroht werden, brauchen sich republikfeindliche Professoren nicht zurückzuhalten. Nicht weniger als 300 von ihnen rufen als Vertreter der „deutschen Geisteswelt“ am 4. März 1933 dazu auf, Adolf Hitler zu wählen.
Georg Friedrich Nicolai übernimmt im selben Jahr eine Professur an der Universität in Santiago de Chile. Er hat Deutschland mit seiner Emigration 1922 für immer den Rücken gekehrt und stirbt 1964 in Chile im Alter von 90 Jahren.

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