Georg Marckmann (Hg.): "Praxisbuch Ethik in der Medizin"

Leitfaden im Umgang mit heiklen Fragen

Ein Arzt spricht mit seiner Patientin.
Ein Arzt spricht mit seiner Patientin. © picture-alliance / dpa
Von Nikolaus Nützel |
Wie überbringe ich als Arzt schlechte Nachrichten? Welche Entscheidungen können oder sollen Patienten aufgebürdet werden? Das "Praxisbuch Ethik in der Medizin" von Georg Marckmann gibt Hilfestellungen bei heiklen Fragen. Das ist auch für Angehörige und andere Berufsgruppen interessant.
"Unter welchen Umständen würden Sie gerne noch lange leben? / Unter welchen Umständen wäre es für Sie kein Ziel mehr, weiterzuleben? / Wenn Sie an das Sterben denken, was kommt Ihnen dann in den Sinn? / Wenn Sie jetzt erfahren würden, dass heute Nacht friedlich einschlafen und morgen nicht mehr aufwachen – was würde das für Sie bedeuten?"
Man muss kein Arzt sein und auch keine Pflegekraft, um nachdenklich zu werden bei einigen Fragen, die im "Praxisbuch Ethik in der Medizin" aufgelistet sind. Dieser Fragenkatalog, der im Buch noch etwas länger ist, findet sich in einem Kapitel zum Thema, wie Ärzte, Pflegepersonal und Patienten sich darauf verständigen können, was ein Patient tatsächlich an lebenserhaltenden Maßnahmen wünscht und was nicht.

Patientenverfügung in der Praxis kritisch

Denn die Tatsache, dass es schon lange Dokumente gibt, die solche Problemstellungen vermeintlich abschließend behandeln, hat nicht dazu geführt, dass die Probleme tatsächlich gelöst wären, heißt es im entsprechenden Kapitel:
"Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen (…), dass sich die konventionelle Patientenverfügung als ein vom Betroffenen unterzeichnetes Dokument im Anwendungsfall regelmäßig nicht bewährt."
Das, was die Autoren "vorausschauende Behandlungsplanung" nennen, ist nur eines von 39 Themen, die das "Praxisbuch Ethik in der Medizin" behandelt. Fachleute verschiedener Disziplinen bearbeiten so unterschiedliche Felder wie das "Überbringen schlechter Nachrichten", die Organtransplantation oder den Schwangerschaftsabbruch nach Früherkennungsuntersuchungen.
Der Herausgeber und Mitautor Georg Marckmann hat die Verfasser der einzelnen Kapitel zwar angehalten, möglichst lebensnah zu schreiben es finden sich viele konkrete Praxistipps. Aber Marckmann stellt auch eines klar:
"Es geht nicht darum, den Lesern die ethische Reflexion, also die ethische Arbeit im Einzelfall, abzunehmen. Das wäre der Fall, wenn wir für die einzelnen Problemstellungen klare, definitive Lösungen anbieten."

Wie überbringt man schlechte Nachrichten?

Wobei im "Praxisbuch Ethik in der Medizin" durchaus immer wieder deutlich Stellung bezogen wird. Im Kapitel über das "Überbringen schlechter Nachrichten" etwa wird berichtet, dass es im 19. Jahrhundert noch geradezu als ärztliche Pflicht galt, Patienten besonders schwerwiegende Diagnosen zu verschweigen. Heute ist das Selbstbestimmungsrecht des Patienten viel stärker in den Mittelpunkt gerückt. Einem Kranken eine schwerwiegende Diagnose aus vermeintlicher Fürsorge vorzuenthalten, gilt als Pflichtverletzung des Arztes.
Die Autoren beziehen auch in anderen Bereichen klare Positionen. Etwa bei der Frage, ob alle Krebs-Früherkennungsmaßnahmen rundum nützlich und empfehlenswert sind, oder ob es nicht besser sein kann, auf bestimmte Untersuchungen zu verzichten – eine Frage, vor der Millionen von Patienten regelmäßig stehen. Ärzte dürften in einem solchen Fall Patienten nicht zu einer bestimmten Entscheidung drängen, auch wenn sie diese Entscheidung selbst für richtig halten, sagt der Medizinethiker Georg Marckmann:
"Das wäre schon bei einer klassischen Behandlung problematisch, wenn man den Patienten so direkt führen würde. Aber ich glaube, es ist besonders problematisch bei diesen Krebs-Früherkennungsmaßnahmen."

In der Notfallmedizin kann nicht lange überlegt werden

Das "Praxisbuch Ethik in der Medizin" macht seinen Lesern allerdings auch immer wieder klar, dass es nicht darum gehen darf, von einem Extrem ins andere zu stolpern. In der Intensivmedizin etwa, also dort, wo es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod geht, kann medizinisches Personal durchaus in die Versuchung geraten, Patienten oder deren Angehörigen Entscheidungen aufzubürden, mit denen sie überfordert sind. Ein Kernsatz des entsprechenden Kapitels lautet daher:
"Die Achtung der Autonomie darf nicht dazu führen, die Verantwortung des behandelnden Teams abzugeben."

Ist Wunscherfüllungsmedizin ethisch korrekt?

Die Aufsatz-Sammlung zeigt dabei, wie weit gespannt der Bogen ethischer Zweifelsfragen in der Medizin ist. Das letzte Kapitel etwa steht unter der Überschrift "Wunscherfüllende Medizin". Der Autor meint damit nicht nur Schönheitschirurgie. Er wirft in einem Praxis-Beispiel auch die Frage auf, ob Eltern, die selber unter Kleinwüchsigkeit leiden, für ihr Kind eine Behandlung mit Wachstumshormonen verlangen dürfen – obwohl das Kind grundsätzlich gesund ist. Das Problem des Kindes liegt vor allem darin, dass es unter Umständen vergleichsweise sehr klein bleibt.
An diesem Beispiel betont das "Praxisbuch Ethik in der Medizin" ein Prinzip, das sich durch den ganzen Band zieht: Es geht darum, miteinander zu reden – bewusst und strukturiert. Wobei es oft auch klare Grenzen gebe, meinen die Autoren des Sammelbandes. Beim Thema "Wunscherfüllende Medizin" etwa müsse klar sein, dass Patienten niemals versprochen werden darf, sie könnten sich Glück erkaufen, wenn sie sich einer bestimmten Behandlung unterziehen. Ein Grundsatz, gegen den aber regelmäßig verstoßen werde, heißt es im entsprechenden Kapitel.
Cover von Georg Marckmann (Hg.): "Praxisbuch Ethik in der Medizin"
Cover von Georg Marckmann (Hg.): "Praxisbuch Ethik in der Medizin"© Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
"Man denke hier nur an die Reklame, die sich an mancher Zahnarztpraxis findet, die da lautet:'‚Ein glückliches Lächeln – mit Zahnästhetik'. Ein Paradebeispiel dafür, wie die Anwendung wunscherfüllender Maßnahmen zu unseriösem Kommerz verkommen kann."

Akademiker schreiben nicht immer für die Praxis

Das "Praxisbuch Ethik in der Medizin" wendet sich zwar vor allem an diejenigen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Doch der Herausgeber Georg Marckmann kann sich vorstellen, dass auch andere Berufsgruppen den Band mit Gewinn durchblättern:
"Ich habe jetzt gehört, dass ein Kollege von mir, der Professor für Moraltheologie ist, dieses Buch anwendet in seinen Seminaren, wo dann Theologiestudenten drin sind, die ja medizinische Laien sind. Und er sagt, dass es sehr brauchbar ist, um diese ethischen Fragen der Medizin einfach sehr anwendungsnah, sehr entscheidungsnah mit den Studierenden auch anderer Fachrichtungen zu diskutieren."
Aber auch Patienten oder Angehörige können an vielen Stellen anregende Fragestellungen und Einschätzungen finden. Allerdings kann es den Leser mitunter einiges an Mühe kosten, sich die entsprechenden Anregungen zu erarbeiten. Auch wenn das Buch – ganz seinem Titel folgend – möglichst praxisnah sein will, so sind die Autoren doch samt und sonders Akademiker, die in ihren Texten einen durchaus akademischen Stil pflegen. Einen Stil, der für manchen Leser eine gewisse Anstrengung erfordern dürfte.

Georg Marckmann (Hg.)
Praxisbuch Ethik in der Medizin
Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
406 Seiten, 29,95 Euro

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