George Bataille: "Der verfemte Teil"

Eine Theorie der Verschwendung

05:59 Minuten
Silhouetten von tanzenden Menschen in einem Club, vor pinkten und blauen Neonröhren.
Es ist nicht das Ziel des Menschen, so viele Güter anzuhäufen wie möglich. Davon war der Philosoph Georges Bataille zeitlebens überzeugt. © unsplash / Alexander Popov
Von Norman Marquardt |
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Exzess, Verschwendung, Nicht-Verwertbarkeit: In seinem wieder aufgelegten Buch "Der verfemte Teil" skizziert der Philosoph George Bataille eine Theorie des Nutzlosen, also all dessen, das sich nicht ins Weltbild der klassischen Ökonomie pressen lässt.
"Das Fest ist eine Form der geregelten Überschreitung", fasst Melanie Reichert, Kulturphilosophin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, den Sinn des Feierns zusammen. "Man könnte sagen, Feste sind überlebenswichtig für das Funktionieren einer Gesellschaft. Man braucht es, wenigstens punktuell. Und je harscher die Gesellschaft unsere Lüste reglementiert, desto stärker wird auch das Überschreitungsbedürfnis und desto ausgelassener werden die Feste."
Die Neuauflage von Georges Batailles Werk kommt zur richtigen Zeit. Es ist, kurz gesagt, ein Buch über das völlig Nutzlose. Über Erotik, das gegenseitige Sich-Auffressen, den Tanz mit dem Tod. Reichert beschreibt die Verfemung als den Umgang, den eine nutzenorientierte Gesellschaft mit ihrem Anderen pflegt: "Der verfemte Teil ist der Teil, der entsteht, wenn ich die Welt nur durch eine Nützlichkeitsbrille sehe. Das Nützlichkeitsprinzip erlaubt es uns, mit der Welt umzugehen und es weist jedem Ding seinen Platz zu."

In eine andere Welt übertreten

Wenn eines in den letzten Monaten keinen Platz hatte, dann waren das Raves. Dabei hat die Technokultur genauso wie Hochzeitsgesellschaften und politische Veranstaltungen ihre eigenen Regeln.
Für den 29-jährigen Markus Hofmann beginnen diese Regeln schon in der Schlange vor dem Club:
"Diese Schlange, die dort steht, steht dort absolut diszipliniert, fast schon in preußischer Disziplin, den Blick nach unten gesenkt, niemand möchte auffallen."
Clubkultur macht aus, dass das eigentliche Fest erst beginnt, wo man am Sicherheitspersonal vorbeigekommen ist. Im besten Falle ist das eine Schwellenerfahrung. In den Worten Hofmanns: "Das ist wie - sozusagen - in eine andere Welt überzutreten. Auf einmal sieht man nackte Personen, die sich ausziehen, die sich ihre Kostüme anziehen. Die Leute können offen zu ihrer Sexualität stehen, offen zu ihrem Drogenkonsum."

Am Unnützen scheitert die klassische Ökonomie

Batailles Theorie des Festes ermöglicht es, die Technokultur als Teil einer Allgemeinen Ökonomie zu sehen. Mit dem verfemten Teil wollte er seinerzeit eine "kopernikanische Wende" in den Wirtschaftswissenschaften anstoßen. Er reagiert mit ihr auf das Problem, dass bei der Erklärung der Verausgabung, des Nicht-Nützlichen, die klassische Ökonomie an ihr Ende gerate. Im Vorwort beschreibt er die Schwierigkeiten seines Ansatzes:
"Ich mußte hinzufügen, daß in dem Buch, das ich schrieb, die Dinge nicht in der Art der Nationalökonomen gesehen werden, daß unter meinem Gesichtspunkt ein Menschenopfer, der Bau einer Kirche oder das Geschenk eines Juwels nicht weniger interessant sind als der Verkauf von Getreide. […] Nicht die Notwendigkeit, sondern ihr Gegenteil, der Luxus stellt der Lebenden Materie und dem Menschen sein Grundproblem."

Bataille blickt auf Verschwendung und Luxus

Die klassische bürgerliche Ökonomie kenne für das Überflüssige keinen Ort, weil sie das Luxusproblem nicht ernst nehme. Ihr blinder Fleck sei das Gegenteil des Wachstums: die Verausgabung. Das relative Gleichgewicht von Wachstum und Verausgabung – ein ausgeglichener Energiehaushalt – ist für Bataille aber ein kosmisches Gesetz. Früher oder später müsse es sich einstellen.
Reichert fasst diese Wende zusammen: "Batailles Ökonomie geht nicht davon aus, dass das Ziel menschlicher Tätigkeit ist, Güter zu akkumulieren und durch Arbeit Reichtum zu vermehren, bzw. Reichtum zu sparen, sondern sie geht davon aus, dass eigentlich die Verschwendung und die Verausgabung im Zentrum all dessen steht, was die allgemeine Ökonomie ist. Bataille nennt es auch die Ökonomie im Rahmen des Universums."

Die Frage nach der Technik

Angesichts zweier Weltkriege ist Bataille dem unbegrenzten technischen Fortschritt gegenüber skeptisch. Technik könne die Grenzen des Wachstums zwar vorläufig erweitern, dann aber kehre die Verschwendung umso stärker zurück. Im Technikkapitel heißt es bei Bataille:
"An diesem Punkt bereiten sich riesige Vergeudungen vor: Nach einem Jahrhundert der Bevölkerungszunahme und des industriellen Friedens wurden, als die provisorische Grenze der Entwicklung erreicht war, durch die zwei Weltkriege die größten Verschwendungsorgien an Reichtümern – und Menschenleben – inszeniert, die die Geschichte je gekannt hat."
Auch der Rave ist eine Verschwendungsorgie, allerdings eine friedliche. In ihm werden immense Energien verausgabt: in Lasershows, Soundsystemen, elektronischen Instrumenten. So ein Fest ist nicht nützlich. In einer Pandemie ist es leichtsinnig. Aber mit Bataille gesehen hätten die Partymassen ein wirtschaftliches Grundgesetz doch besser verstanden als viele Ökonomen: Wenn man der Verausgabung keinen Raum zugesteht, bricht sie sich früher oder später ihre eigene Bahn. Auf ihre Form kommt es also an.

Georges Bataille: "Der verfemte Teil. Versuch einer allgemeinen Ökonomie"
Herausgegeben von Michel Surya und Tim Trzaskalik
Mit einem Nachwort von Benjamin Noys
Aus dem Französischen von Traugott König, neu durchgesehen von Tim Trzaskalik
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2021
254 Seiten, 22 Euro

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