George Eliot: "Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz"
Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019
1264 Seiten, 45 Euro
Eine spitzzüngige Beobachterin
06:25 Minuten
George Eliot war die meist gelesene und bestbezahlte Autorin des viktorianischen Englands - weil sie unter männlichem Pseudonym schrieb. Ihr glänzender Roman "Middlemarch" erzählt von den Verwicklungen der Geschlechter und sozialen Missständen.
Frauenseelen sind schlichtweg unergründlich. Zumal für Männer. Da will die eine, Dorothea genannt, unbedingt einen betagten Gelehrten heiraten, den ihre lebenspraktische Schwester Celia schon im ersten Moment als "Mumie" klassifiziert. Sie bekommt ihren Willen und ist kreuzunglücklich. Da will die andere, die betörende, blondschopfige Rosamond, Tochter eines strauchelnden Unternehmers, auf gar keinen Fall einen der finanzstarken Bewerber ehelichen, die allesamt auf Knien vor ihr rutschen. Sie hat sich stattdessen in den mittellosen fortschrittlichen Arzt Lydgate verguckt und ihm viel zu viele Vertraulichkeiten gestattet. Und da will eine dritte, die kluge Mary, von einer Verbindung mit einem lustigen Hallodri, der sie ernsthaft liebt, erst einmal nichts wissen. Hinzu kommen die Einmischungen diverser Mütter, Väter, Tanten und Onkel.
Die Schriftstellerin George Eliot (1819-1880) weidet sich in ihrem grandiosen Roman "Middlemarch" an den Unwägbarkeiten zwischen den Geschlechtern, beugt sich mit freundlicher Ironie über die Verwicklungen, schürzt Knoten, macht regelrechte Handlungsknäuel daraus und lässt dann alle Fäden wieder auseinander schnurren. Ihr ziegelsteindickes Hauptwerk, das jetzt in einer eleganten, einfallsreichen Neuübersetzung von Melanie Walz vorliegt, ist eine faszinierende Lektüre.
Ehetechnisch ein Fehlgriff
Eliot liefert eine ebenso unterhaltsame wie bezwingende Gesellschaftsanalyse, die den Epochenwandel um 1830 seziert und auch stilistisch eine Wohltat ist. Ob das Klassensystem, die sozialen Missstände, die Ambitionen der Mittelschicht, die Abhängigkeit der Frauen oder die Beharrungskräfte der Provinz: Über ihr vielfältiges Personal gelingt ihr die Auffächerung verschiedener Realitäten.
Es gibt einen tumben Landadligen wie Dorotheas Onkel Mr. Brooke, der seine Pächter mit paternalistischer Schäbigkeit behandelt. Oder die reizende Rosamond, ein fashion victim ihrer Zeit, die sich ehetechnisch als Fehlgriff entpuppt. Aber auch der Idealismus des Arztes erweist sich als zu kühn. Unter den Frauen kommen diejenigen besser weg, die ihren Kopf benutzen. Hier verarbeitet Eliot, die zu den verblüffendsten Erscheinungen des 19. Jahrhunderts gehörte, eigene Erfahrungen. Als jüngste Tochter einer mittelständischen Familie führte sie dem verwitweten Vater schon als Heranwachsende den Haushalt und blieb nach seinem Tod ohne Erbe zurück.
Fragwürdiger Lebenswandel
Statt bei einem der Brüder Quartier zu nehmen, ging sie auf Reisen, bediente den neuen Zeitschriftenmarkt mit Artikeln, wurde selbst Herausgeberin, las fünf Sprachen und entdeckte Heinrich Heine für das englische Publikum. Als sie sich – welch ein Skandal – mit dem verheirateten George Lewes zusammentat, begann sie unter einem männlichen Pseudonym Romane zu veröffentlichen und wurde zur meist gelesenen und bestbezahlten Autorin des viktorianischen Englands.
Die Londonerinnen luden die verstörend kluge Schriftstellerin wegen ihres fragwürdigen Lebenswandels nicht in ihre Salons ein, was Eliot nicht weiter bekümmerte. Bald war sie die viel populärere Gastgeberin. Ihre spitzzüngige Beobachtungsgabe amüsiert bis heute.