Die Allgegenwart des Geheimdienstes
Ein Klassiker ist 2015 in Russland zum Bestseller geworden: George Orwells Roman "1984" über einen totalitären Überwachungsstaat. Über die neue Beliebtheit wird jetzt heftig spekuliert: Beginnt eine Auseinandersetzung mit den Folgen von Putins Politik?
Genau 85.000 Exemplare von Orwells Roman "1984" sollen in Russland im Jahr 2015 verkauft worden sein – das ist Platz sieben auf der Bestseller-Liste Belletristik der russischen Zeitung RBK. Auf Platz eins liegt der aktuelle Roman des russischen Erfolgsautoren Boris Akunin, dahinter diverse international erfolgreiche englische und amerikanische Romane. Das russische Portal "pro-books" sieht Orwells Werk immerhin auf Platz 23 im Jahres-Rating. Boris Kuprijanow, Gründer des linksorientierten Buchladens Falanster in Moskau, glaubt zwar nicht an die Aussagekraft dieser Listen, aber auch er sagt:
"Orwell verkauft sich immer gut. Und seit einigen Jahren lesen die Leute in Russland wieder mehr. Mehr Klassik, auch mehr westliche Klassik, und zeitgenössische westliche Literatur. Einige Leute spekulieren jetzt, die Beliebtheit Orwells in Russland hänge mit den jüngsten politischen Entwicklungen in unserem Land zusammen. Das stimmt aber nicht."
In Internetforen weisen Liberale auf Parallelen zwischen Putins Russland und der Welt des Winston Smith in "1984" hin. Sie äußern Hoffnung: Wenn die Russen Orwells Roman läsen, hieße das, sie setzten sich endlich mit den Konsequenzen von Putins Macht auseinander.
"Freiheit ist Sklaverei" heißt es bei Orwell
Tatsächlich hörte man die Losungen "Krieg bedeutet Frieden" oder "Freiheit ist Sklaverei" aus dem Roman so ähnlich bis vor kurzem zum Beispiel von Wsewolod Tschaplin, dem mittlerweile entlassenen Sprecher der einflussreichen Russisch-orthodoxen Kirche. Tschaplin sagt schon mal, die Menschen sollten aufs Schlachtfeld ziehen, andernfalls drohe ihnen der Tod. Auch das ständige Suchen nach Feindbildern – bei Orwell gibt es "Hasssendungen" – ist durchaus aus Putins Russland bekannt – siehe Kiseljows wöchentliche Propagandasendung "Vesti nedeli" im russischen Fernsehen. Und davon, dass sie, wie über Orwells allgegenwärtigen "Televizor" oder "Hörsehschirm", jederzeit vom Geheimdienst abgehört werden können, sind nicht nur viele Russen seit langem überzeugt.
Der Literaturkritiker Pawel Matwejew schrieb bereits vor anderthalb Jahren bei "colta", dem derzeit wichtigsten intellektuellen Debattenportal in Russland, über "1984":
"Obwohl die fiktiven Ereignisse mehr als dreißig Jahre zurück liegen, entsteht der Eindruck, all dies geschehe genau jetzt. (...) Solange die Macht der geheimen politischen Polizei in Russland nicht gebrochen ist, bleibt der wichtigste russische Schriftsteller George Orwell."
Die Auftritte von Politikern ähneln dem Roman
Der Verleger Boris Kuprijanow hält diese Interpretation für übertrieben.
"Selbst wenn unser politisches Establishment das gern möchte – Russland ist dem Land, das Orwell beschreibt, nicht sehr ähnlich und wird es so bald auch nicht sein. Natürlich kann man in den Auftritten unserer Politiker sehr viel von dem finden, was Orwell beschreibt. Sie verabschieden zum Beispiel schrecklich harte Gesetze. Aber in Russland hält sich niemand daran."
Viel passender, meint Kuprijanow, beschreibe der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin die russische Wirklichkeit.
"Sorokin hat in seinen Antiutopien, dem "Zuckerkreml" oder dem "Tag des Opritschniks" mehr Komisches. Orwell ist eben Brite, er geht das Ganze sehr ernst an. Das Regime, das Orwell beschreibt, kann nur ein echter Diktator aufbauen, und den wird es in Russland, hoffe ich, nicht geben."
"1984" hat in den letzten Jahren auch in anderen Ländern ein Revival erlebt. Nach den Enthüllungen Edward Snowdens über das umfassende Überwachungsprogramm des US-Geheimdienstes NSA im Jahre 2013 schaffte es der Roman, Medienberichten zufolge, in der Bestseller-Liste von Amazon auf Platz 42 in Großbritannien und auf Platz 66 in den USA.
"1984" ist eine Chiffre für den Überwachungsstaat
Das Jahr "1984", die Formel "Big Brother ist watching you", allein der Name "Orwell" sind längst zu Chiffren für den Überwachungsstaat geworden. Auch dieses Rezeptionsmuster findet sich in Russland. Selbst dem Russischen Verband der Maschinenbauer ist der Roman eine Betrachtung wert. Im Sommer erschien auf dessen Website ein Artikel, in dem es heißt:
"Viele meinen, der großartige Roman Orwells "1984" beruhe auf dem Bild der UdSSR. Aber die USA sind Orwells erdachter Kolonialherrschaft viel ähnlicher – mit ihrem weltweitem Abhören und Überwachen von allem und jedem, mit der gekonnten und harten Kontrolle Andersdenkender und Oppositioneller im Land, mit dem entschiedenen und harten Unterdrücken rassischer und sozialer Unruhen."
So wird der Roman instrumentalisiert, von den einen wie den anderen. Der Moskauer Philologe Dmitrij Gasin stellt in seinem Videoblog regelmäßig Bücher vor. Auch Orwells "1984". Sein Fazit:
"Man begreift, wie leicht man sich von seinen eigenen Verhaltensmaximen lossagen kann, von dem, was das eigene Gewissen diktiert. Das geht nämlich viel schneller als man denkt. Was auch immer wir aus dem Text herauslesen – er hat einen Ehrenplatz im Regal der klassischen Literatur."