Blaupause der politischen Verhältnisse
Nach dem Militärputsch von 2013 erscheint George Orwells Roman "1984" vielen Ägyptern wie eine Blaupause der politischen Verhältnisse. Im letzten Jahr sollen zehn neue Ausgaben des Buches auf Arabisch erschienen sein, berichtet Jürgen Stryjak aus Kairo.
Als ägyptische Polizisten vor gut einem Jahr einen Studenten festnahmen und ein Exemplar des Romanes "1984« von George Orwell bei ihm konfiszierten, da herrschte bei vielen Buchhändlern im Land große Freude. Die ägyptische Tageszeitung "Al-Masry al-Youm" zitierte einen Händler mit den Worten:
"Ich wünsche mir, dass die Polizei jeden Tag jemanden wegen eines Buches verhaftet!"
Im Falle von "1984" hätte das seinen Umsatz vervielfacht. Bislang lag die arabische Übersetzung für umgerechnet 1,20 Euro wie Blei in seinem Laden, aber nun würden sich die Kunden darum schlagen, und er könne den dreifachen Preis verlangen. In den Wochen nach der Verhaftung des Studenten sollen mindestens zehn neue Ausgaben von Orwells Roman auf Arabisch erschienen sein.
In den sozialen Medien wird das Interesse angeheizt
Auch in den sozialen Medien heizte die Verhaftung das Interesse an dem Buch erst richtig an.
Eine ägyptische Aktivistengruppe, die sich gegen den Militärputsch engagiert, postete ein englischsprachiges Video mit einer Inhaltsangabe des Romans – versehen mit arabischen Untertiteln.
Seit dem Militärputsch von 2013 kommt Orwells "1984" vielen Ägyptern vor wie die Blaupause für die neuen Verhältnisse im Land. Regimekritiker werden verhaftet, manchmal von Kaffeehaustischen weg, nachdem jemand sie denunziert hat. Die Propaganda betreibt permanent Gehirnwäsche – den Militärputsch erklärte sie kurzerhand zur einzigen echten Revolution in Ägypten.
"1984" gehört zu den zehn meist verkauften Büchern
Und Big Brother hat sowieso ein Auge auf alles. Dies erklärt den Erfolg des Romans. Ein Magazin zählte ihn 2015 zu den zehn meist verkauften Büchern im Land. Und bei Youtube gibt’s auch schon eine Art Hörbuchversion auf Arabisch, vorgelesen von einer Ägypterin.
Der Roman hatte allerdings schon vor dem Militärputsch Fans in Ägypten. Im Frühjahr 2013 pries der Salafist Hossam al-Bukhari die Weitsicht des Buches. Man müsse es unbedingt lesen, sagte er im Programm eines religiösen Fernsehsenders, vor allem weil es vor totalitären Regimen warne.
Auch eine Theaterfassung von "1984" ist geplant
Das Interesse an Orwells "1984" ist auch heute noch groß in Ägypten. Die Regisseurin Abir Ali will eine Theaterfassung auf die Bühne bringen – und zwar in ägyptischer Umgangssprache, Uraufführung vielleicht im Februar.
Anders als manche Medien behaupteten, ist George Orwells Roman in Ägypten nicht verboten. Man kann ihn auch in arabischer Übersetzung überall im Land kaufen.
Der eingangs erwähnte Student war auch gar nicht wegen des Buches verhaftet worden, sondern weil er angeblich eine Polizeistreife fotografierte. Es hätte mich auch überrascht, schrieb eine Ägypterin auf Facebook, wenn sich ägyptische Polizisten mit Belletristik auskennen würden.