Georges Bensoussan: "Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage"
Aus dem Französischen von Jürgen Schröder
Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin/Leipzig 2019
191 Seiten, 19,90 Euro
Die Legende vom friedlichen Zusammenleben
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Dass Juden und Muslime in der Geschichte meist friedlich koexistierten, ist ein Mythos. Diese These stellt der Historiker Georges Bensoussan in seinem neuen Buch auf. Islamischen Antisemitismus gebe es nicht erst seit der Staatsgründung Israels.
Während Juden heute in Europa zunehmend einem auch islamischen Antisemitismus ausgesetzt sind, hält sich die Vorstellung, dass einst im maurischen Spanien eine friedvolle Koexistenz der Religionen und Kulturen bestanden habe. Und auch in den arabischen Ländern sei es vor Staatsgründung Israels eigentlich zu keinerlei Konflikten gekommen. Islamischer Antisemitismus, wenn überhaupt, sei erst durch die Vertreibung der Palästinenser entstanden.
Der französische Historiker Georges Bensoussan widerlegt derlei Vorstellungen in seinem neuen Buch nachhaltig. Es ist ein wichtiges Buch, ein Augenöffner, erschienen in einem kleinen Verlag und öffentlich kaum wahrgenommen. Das ist symptomatisch, stellt es sich doch der von ängstlichen Nicht-Muslimen bevorzugten "Legende vom freundlichen Zusammenleben" diametral entgegen. Bensoussan spricht Fragen an, die im postkolonialen, antirassistischen Diskurs unserer Tage "verboten" sind und für diejenigen, die in Arabern vor allem Opfer des Kolonialismus und israelischer Aggression sehen und die Existenz eines kulturell-religiös motivierten, muslimischen Antisemitismus bestreiten, als Provokation erscheinen müssen.
Entrechtung, Diskriminierung und Gewalterfahrung
Spricht man von Vertreibung, sieht man sofort die Palästinenser, deren Nachfahren in den Flüchtlingslagern des Nahen Ostens auf ein Rückkehrrecht nach Israel pochen. 750.000 Flüchtlinge gelangten infolge des Unabhängigkeitskrieges und des Sechs-Tage-Krieges in Israels Nachbarstaaten. Was kaum bedacht wird: 900.000 jüdische Flüchtlinge haben seit 1948 die arabischen Staaten und den Iran verlassen. Ihre Geschichte, die eines schleichenden Ausschlusses, stellt Bensoussan in den Vordergrund seiner Untersuchung. Er weist nach, dass jüdische Auswanderung keineswegs zionistisch motiviert war, sondern Folge langanhaltender Entrechtung, Diskriminierung und Gewalterfahrung unter muslimischer Herrschaft, die weit vor 1948 begann. Er rekonstruiert die Geschichte der Juden in den nordafrikanischen Staaten, in Syrien, Ägypten, Jemen, dem Irak.
Seine Quellen sind Reise-und Zeitzeugenberichte aus dem 19.- und 20.-Jahrhundert, diplomatische Dokumente, Polizeiakten, aber auch die Schriften arabischer Schriftsteller und Historiker oder auch Theoretiker des politischen Islam. Sie belegen, dass die "Toleranz" der Muslime gegenüber ihren "Schutzbefohlenen" aus Verachtung bestand, die immer wieder zu blutiger Verfolgung führte. Juden wurden in der arabischen Welt auch als Repräsentanten der Moderne attackiert. "Die Allgegenwart der Furcht beherrscht die Geschichte aller jüdischen Gemeinden auf arabischem Boden", resümiert der Autor.
Bensoussan, dessen Familie aus Marokko stammt, ist in seinen Schlüssen mehr als deutlich, aber dennoch kein Scharfmacher, sondern vielmehr um Differenziertheit bemüht, ja um Aufklärung. Die Tradition des Antisemitismus in arabischen und islamischen Gesellschaften zu akzeptieren und nicht zu verleugnen, ist für ihn der erste Schritt, umsichtig auf die Herausforderungen der Gegenwart reagieren zu können.