Georges Perec: Geboren 1936
Aus dem Französischen von Eugen Helmlé
Diaphanes, Zürich/Berlin 2015
96 Seiten, 9,95 Euro
Schriftsteller und Sonderling
Der postum in deutscher Übersetzung erschienene Sammelband von Georges Perec entführt in die außergewöhnliche Arbeitsweise des französischen Autoren. Er wollte zum Beispiel in Paris an zwölf Orten in zwölf Jahren leben und Nebensächliches erzählen, das dort passiert. Autobiografisches über seine Familie erfährt man fast gar nicht.
Georges Perec hat mehrere autobiografische Buchprojekte geplant oder begonnen, doch das große vierbändige Werk, das auf unterschiedliche Weise sein eigenes Leben zum Gegenstand haben sollte, wurde nie geschrieben. Vermutlich war es nicht allein sein früher Tod mit nur 46 Jahren, der die Realisierung dieser Pläne verhindert hat.
Denn Perec schrieb nicht in erster Linie als Erzähler, sondern folgte Regeln, die außerhalb des Erzählens liegen. Als Mitglied der Gruppe Oulipo, die das Vorhandensein künstlerischer "Inspiration" leugnet und statt dessen auf das Spiel mit "Zwängen", also willkürlich festgelegten Sprach- und Handlungsstrukturen setzt, schrieb Perec beispielsweise einen Roman, der vollständig ohne den Buchstaben e auskommt; und sein Meisterwerk "Das Leben, Gebrauchsanweisung" folgt einer geometrischen Anordnung von Orten und Menschen, die nach einem Rösselsprung-System zusammengebracht werden.
Perec hatte stets die starke Neigung, Räume, Erfahrungen, Menschen irgendwie zu sortieren, zu gruppieren und zu nummerieren. In welcher Weise er seine Erinnerungen als erzählerisches Material zu organisieren versuchte, und wie er diese Versuche selbst reflektierte, zeigt der 1990 posthum erschienene, nun auf deutsch neu aufgelegte Sammelband zu diesem Thema. Enthalten sind kleine Prosastücke und Essays, sowie ein Vortrag und ein hochinteressanter Brief des Autors an seinen Verleger.
Intellektueller Übermut
Schon beim Nachdenken über den ersten und simpelsten autobiografischen Satz "Ich bin geboren am..." zerfallen die Fakten in lauter unhaltbare Fragmente. Ausgeblendet, oder nur angedeutet, wird der familiäre Hintergrund: Dass Perecs Eltern jüdische Migranten aus Polen waren und umkamen, als der Autor noch ein Kind war - der Vater als französischer Soldat, die Mutter vermutlich in deutschen Vernichtungslagern. Perec benennt das nie, in keinem der Texte dieses Buches.
Aber sie setzen sich sämtlich auf irgendeine Weise mit dem Verhältnis zwischen Erzählbarem und der Wahrheit auseinander; sie geben möglichst wenig greifbare Erklärungen und auch Erkenntnisse sind gewöhnlich als Fragen formuliert:
"Das Bildnis des Künstlers als gelehriger Affe: kann ich 'aufrichtig' sagen, dass ich ein Clown bin?"
Perecs intellektueller Übermut, seine Verstöße gegen die Regeln des literarischen Handwerks und die Einhaltung eigener, oft auch bizarrer Regeln: Hier ist das alles in höchst reflektierter Weise gegenwärtig - am greifbarsten vielleicht in dem Vortrag, den Perec vor seinen Kollegen von der Zeitschrift Arguments hielt. Darin wird vom inneren Kampf des 22-jährigen Fallschirmjägers Perec berichtet, der sich in einem Flugzeug in Reih und Glied aufstellt, um, als er an die Reihe kommt, den entscheidenden Schritt ins Leere zu tun. Das sei es, was auch die Zeitschrift tun müsse: "...sie muss sich einfach fallen lassen, sie muss akzeptieren zu springen."
Leben und Schreiben als Mutprobe, als großer Aufwand an Vertrauen in das Unbekannte: solcherart sind die autobiografischen Mitteilungen von Georges Perec.