Georges Perros: "Klebebilder"
Aus dem Französischen von Anne Weber
Matthes & Seitz, Berlin 2020
860 Seiten, 58 Euro
Geistesblitze eines gierigen Lesers
06:34 Minuten
"Klebebilder", die erstmals auf Deutsch erschienenen Notizhefte des französischen Autors Georges Perros, wirbeln das Bewusstsein aufs Schönste durcheinander. Mini-Wutanfälle stehen neben Naturimpressionen, Verzweiflung neben surrealem Witz.
Ein Gedankenwirbel, ein Sturm, der einem durch den Kopf fährt, ein Gefühl von Plötzlichkeit – diese Wirkung erzielen die Texte des ehemaligen Schauspielers, Dichters und Schriftstellers Georges Perros. Bis zu seinem Tod im Jahr 1978 war Perros nur Eingeweihten ein Begriff. Seine sorgsam komponierten Notizhefte, ab 1960 als "Papiers collés" in drei Einzelbänden erschienen, liegen jetzt erstmals auf Deutsch vor.
Übersetzt hat diese Mikro-Geschichten, Bewusstseinsexplorationen, Mini-Wutanfälle, Naturimpressionen, Betrachtungen literarischer Werke, Gedichtzeilen, Zitate, Rollenspiele, Überlegungen zum Charakter der Frau im Allgemeinen und zum Mann im Spezifischen die Schriftstellerin Anne Weber, und sie hat auch den Titel "Klebebilder" erdacht, der ein echtes Fundstück ist, weil damit die Bewegung der Texte eingefangen wird. Es handelt sich tatsächlich um Denkbilder, kostbare Vignetten, zusammengefügt zu einem Brevier, in dem man täglich lesen kann. Wer sich einlässt auf den fragmentarischen Charakter dieses Gebildes, wird reich belohnt.
Distanz zu literarischen Zirkeln
Perros, 1923 in einem Pariser Arbeiterviertel geboren, selbst Verfasser eines köstlichen Langgedichts und ein gieriger, nie zu sättigender Leser, machte sich sein Leben lang Gedanken über das, was Sprache bedeutet, was Verse auslösen und wie sich Valéry, Baudelaire, Hölderlin und Ponge voneinander unterscheiden. Es gibt großartige Charakterisierungen bestimmter Tonlagen und Haltungen.
Auch Sartre, in seinem literarischen Ansatz Lichtjahre von Perros entfernt, wird immer mit respektvoller Ironie erwähnt. George Perros, der sich seit 1959 mit seiner Familie in der bretonischen Hafenstadt Douarnenez niedergelassen hatte und bewusst auf Distanz zu den literarischen Zirkeln der Metropole ging, bewunderte den Optimismus des Kollegen und dessen Fähigkeit, an gesellschaftliche Veränderungen durch Literatur zu glauben.
Das Schreiben endet im Schweigen
Ab und zu blitzen in den "Klebebildern" regelrechte Aphorismen und Maximen auf. Ein Leser altere rückwärts, schreibt Perros einmal, weil er die Jahrhunderte durchquere, und die Poesie sei die Berichtigerin der Wirklichkeit. Wer sich über sein Inneres beuge, fange bloß "Katastrophenfische", heißt es ein anderes Mal. Es gibt herrliche Neuschöpfungen wie "Panikwind" oder "Gedächtnisbretter". Das Wort "Liebe" nennt Georges Perros das "dicke Gemüse der Kunst und Literatur", von dem man besser die Finger lasse.
Die "Klebebilder" sind Ansichtskarten, die jemand aus seinem Inneren verschickt, denn Perros war überzeugt davon, dass man nicht beschreiben dürfe, sondern sich aufschreiben müsse. Kierkegaardsche Verzweiflung kultiviert er ebenso wie surrealistischen Witz. Er liefert ungeschönte Selbsterforschungen, Variationen mit Thema, bei denen sich die Tempi ändern.
Eine Zäsur bildet die Schlusskadenz, als der Autor schildert, wie er 1976 wegen Kehlkopfkrebs operiert werden muss und sich anschließend nicht der Mühsal unterwerfen will, neu sprechen zu lernen. Sein Schreiben endet in diesem Schweigen, und es ist wie mit dem Meer in der Bretagne, dessen Unaufhörlichkeit ihn beruhigte: Georges Perros‘ Ton nistet sich ein im Ohr des Lesers.